Spruch:
Die Urteile des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 5. Mai 1999, GZ 7 U 313/97w-30, und des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. Oktober 1999, AZ II Bl 275/99, verletzen das Gesetz in der Bestimmung des § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB.
Diese Urteile werden aufgehoben und Jan Hiob Harry B***** von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe als Lenker eines PKW durch mangelnde Vorsicht und Aufmerksamkeit, insbesondere dadurch, dass er mit relativ überhöhter Geschwindigkeit an einem IVB-Bus vorbeifuhr und dadurch mit dem Fußgänger Marco P*****, welcher die Fahrbahn in südlicher Richtung überqueren wollte, kollidierte, Marco P***** fahrlässig schwer am Körper verletzt, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Text
Gründe:
Mit dem obzitierten Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck wurde Jan B***** (im zweiten Rechtsgang) des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt. Der Berufung des Angeklagten gab das Landesgericht Innsbruck nicht Folge (Urteil vom 8. Oktober 1999, AZ II Bl 275/99).
Nach dem Inhalt des Schuldspruches hat der Beschuldigte am 9. April 1997 gegen 16.00 Uhr in Innsbruck auf Höhe des Hauses Höttinger-Au Nr 38 als Lenker eines PKW durch mangelnde Vorsicht und Aufmerksamkeit, insbesondere dadurch, dass er mit relativ überhöhter Geschwindigkeit an einem IVB-Bus vorbeifuhr, den zwölfjährigen Fußgänger Marco P*****, welcher die Fahrbahn in südlicher Richtung überqueren wollte, niedergestoßen und ihm hiedurch schwere Verletzungen, nämlich ein Schädel-Hirntrauma, multiple Quetschungen und Prellungen, eine Zahnverletzung und einen offenen erstgradigen Bruch des linken Unterarms zugefügt.
Nach den Feststellungen des Erstgerichtes hielt B***** bei sonniger Witterung und trockener Fahrbahn eine Geschwindigkeit von 48 km/h ein und wollte mit einem Seitenabstand von rund 1,5 Meter an einem in einer Haltestelle anhaltenden Linienbus der Innsbrucker Verkehrsbetriebe vorbeifahren, als der zwölfjährige Marco P***** nach Verlassen des Busses an dessen Vorderseite vorbeiging und den Fahrstreifen des Angeklagten zügig betrat, um die Fahrbahn zu überqueren. Trotz sofort eingeleiteter Vollbremsung konnte B***** die Kollision mit dem Knaben nicht verhindern. Hiezu hätte es der Einhaltung einer Fahrgeschwindigkeit von 25 km/h bedurft (S 189 f). In rechtlicher Hinsicht erachtete das Erstgericht das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB in subjektiver und objektiver Hinsicht erfüllt, weil B***** gemäß § 20 StVO verpflichtet gewesen wäre, an dem in einem Haltestellenbereich haltenden Autobus mit einer angemessen herabgesetzten Fahrgeschwindigkeit und in einem ausreichenden Seitenabstand vorbeizufahren. Die (nahezu vollständige) Ausschöpfung der zulässigen Geschwindigkeit (von 50 km/h) sei nur bei optimalen Verhältnissen gestattet, welche aber bei der festgestellten Verkehrssituation nicht gegeben gewesen sei. Im Übrigen liege für einen besonders einsichtigen und sachkundigen Kraftfahrer - ohne Überspannung seiner Sorgfaltspflichten - die Überlegung nahe, dass sich im Bereich eines in einer Haltestelle stehenden Linienbusses Personen befinden könnten, die dem Straßenverkehr nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zuwenden (US 8 f).
Auch das Berufungsgericht vertrat den Standpunkt, der Angeklagte habe durch Einhaltung einer relativ überhöhten Geschwindigkeit der in § 20 StVO normierten Sorgfaltspflicht zuwidergehandelt.
Dieser Schuldspruch steht, wie der Generalprokurator in seiner deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes im Ergebnis zutreffend aufzeigt, mit dem Gesetz nicht in Einklang.
Rechtliche Beurteilung
Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung ist das Grunderfordernis der Verwirklichung einer fahrlässigen Körperverletzung des § 88 StGB - vorliegend nach dessen Abs 1 und Abs 4 erster Fall - ein im Sinne dieses Deliktstypus objektiv sorgfaltswidriges Verhalten. Darunter ist ganz allgemein ein Verhalten zu verstehen, welches bereits im Zeitpunkt seiner Vornahme die Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung eines anderen objektiv befürchten lässt und dabei den Bereich des vom Recht tolerierten Risikos überschreitet (deliktstypisch sozial inadäquat gefährliches Verhalten: vgl Burgstaller in WK1 § 88 Rz 8, § 6 Rz 33 ff und § 80 Rz 8 ff; Kienapfel BT I4 § 80 RN 27). Demnach schließt ein Verhalten, welches sich im Rahmen des erlaubten Risikos bewegt, schon die Zurechnung zum objektiven Tatbestand aus.
Prototyp des erlaubten Risikos ist das - generell für Leben, Gesundheit und Sachgüter fraglos ein relevantes Risiko darstellende - Autofahren unter Einhaltung aller maßgeblichen Regeln des Straßenverkehrs. Die Verursachung einer Rechtsgüterverletzung, die trotz Beachtung sämtlicher Verkehrsregeln zustandegekommen ist, ist demzufolge keine Tatbestandshandlung.
Im vorliegenden Fall ist daher vorerst zu prüfen, ob das Fahrverhalten des Angeklagten den hier zu beachtenden Verkehrsvorschriften entsprochen hat.
Auszugehen ist zunächst davon, dass der Angeklagte die im Ortsgebiet zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h nicht überschritten hat. Die dadurch gezogene Grenze zu einem durch die Wahl einer größeren Geschwindigkeit indizierten unerlaubten Risiko ist indes keine absolute. Sie wird vielmehr durch Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisse sowie durch Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung, welchen sich der Fahrzeuglenker ebenso anzupassen hat wie seinen individuellen Fähigkeiten (§ 20 Abs 1 StVO), relativiert. Dementsprechend ist die Ausschöpfung der an sich zulässigen Höchstgeschwindigkeit nur bei optimalen Verhältnissen statthaft. Ein Minus bei nach der angeführten Bestimmung maßgebenden Faktoren ist demnach durch die Reduktion der Geschwindigkeit auf eine solche, welche jedenfalls die Einhaltung der bei der erlaubten Geschwindigkeit ohne diese Defizite erreichbaren Anhaltestrecke gewährleistet, zu kompensieren.
Aus dem aus § 20 Abs 1 StVO abzuleitenden Gebot des Fahrens auf Sicht - gegebenenfalls auf halbe Sicht - kann sich desgleichen die Verpflichtung zur Einhaltung einer geringeren als der grundsätzlich zulässigen Höchstgeschwindigkeit und damit eine Einengung des erlaubten Risikos ergeben.
Ein besonderer Stellenwert kommt vornehmlich im Straßenverkehr dem in § 3 StVO normierten, als expliziter Ausformung des erlaubten Risikos verstandenen (vgl Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt 59; Kienapfel BT 14 § 80 Rz 29 ff) Vertrauensgrundsatz zu, wonach der sich sorgfaltsgemäß Verhaltende (vgl 11 Os 105/62; 11 Os 38/62 ua) darauf vertrauen kann, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer, die von seinem Verhalten in irgendeiner Weise tangiert werden könnten, ebenfalls sorgfaltsgemäß handeln, soweit nicht augenfällig erkennbar ist (s ZVR 1966/223; 1967/258), dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, die Verkehrsvorschriften einzuhalten - weshalb der Vertrauensgrundsatz auch in Bezug auf nicht wahrnehmbare Personen anwendbar ist (SSt 52/2; Burgstaller aaO § 88 Rz 16, § 80 Rz 30) oder aber eine unklare Verkehrssituation vorliegt, also eine Verkehrslage, die sich nach den Umständen nicht beurteilen lässt (ZVR 1963/261, 1979/249).
Nach dem vorliegenden Urteilssachverhalt liegt keiner jener Faktoren vor, welcher der Ausschöpfung der im Ortsgebiet zulässigen Höchstgeschwindigkeit entgegenstehen könnte.
Angesichts der trockenen Straße, der sonnigen Witterung und mangels jeglicher Anhaltspunkte für Defizite in Bezug auf Sicht, Bereifung, Bremsanlage, Ladung oder individueller Fähigkeiten des Fahrzeuglenkers und dgl bestand zur Wahl einer geringeren als der im Ortsgebiet zulässigen Geschwindigkeit kein Anlass.
Das Vorbeifahren an einem rechts haltenden Omnibus ist nach den Verkehrsvorschriften nur in den in § 17 StVO genannten, hier nicht zutreffenden Fällen untersagt.
Damit, dass der zwölfjährige Schüler Marco P***** vor dem haltenden Bus - für den Angeklagten von rechts und vorher nicht erkennbar - "zügig" in die Fahrbahn trat und unter Missachtung des fließenden Verkehrs - und damit des herannahenden Angeklagten - die Straße überqueren wollte, musste der Angeklagte nicht rechnen. Insoweit kommt ihm der Vertrauensgrundsatz zugute, der nach dem Vorgesagten auch in Bezug auf nicht wahrnehmbare Personen anzuwenden ist. Hinweise auf eine durch die Anwesenheit von Kindern zu beachtende potentiell erhöhte Gefahrenlage (§ 12 StVO: "Achtung Kinder"), welche die Anwendbarkeit des Vertrauensgrundsatzes ebenfalls ausschließen, fehlten. Dass der Autobus im Bereich einer Haltestelle hielt, stellt zudem keine unklare Verkehrssituation dar und steht sohin der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes ebenfalls nicht entgegen. Fraglich kann somit nur sein, ob sich der Angeklagte beim Vorbeifahren am haltenden Bus sorgfaltsgemäß verhalten hat, weil er sich verneinendenfalls auf den Vertrauensgrundsatz nicht berufen könnte.
Weil ein Überqueren der Fahrbahn durch Fußgänger nach Lage des Falles auch an der vom späteren Unfallopfer gewählten Position grundsätzlich zulässig war, war der Angeklagte verhalten, seine Fahrweise so einzurichten, dass er einem - sich seinerseits StVO-konform verhaltenden - Fußgänger das gefahrlose Erreichen einer Position nach Passieren der Fluchtlinie der linksseitigen Busbegrenzung ermöglicht, aus welcher der Fußgänger einen Überblick auf die Verkehrssituation im Hinblick auf sein Vorhaben, die Fahrbahn zu überqueren, gewinnen konnte (vgl 2 Ob 99/71; ZVR 1974/125, 1979/155). Dazu hat er entweder einen entsprechenden Seitenabstand zum Autobus einzuhalten oder aber seine Geschwindigkeit so weit herabzusetzen, dass er vor einem einige Schritte in die Fahrbahn tretenden Passanten stehen bleiben oder ihm doch rechtzeitig ausweichen kann, um ihm das Erreichen der zuvor beschriebenen Sichtposition zu ermöglichen (2 Ob 99/71; 2 Ob 53/88; Burgstaller aaO § 80 Rz 29).
Durch die Wahl eines festgestellten Seitenabstandes von rund 1,5 Meter hat der Angeklagte diesem Sorgfaltsgebot entsprochen: eine gleichzeitige Reduktion der Geschwindigkeit war demnach nicht erforderlich. Daraus folgt, dass der Angeklagte allen nach Lage des Falles zu beachtenden Verkehrsvorschriften entsprochen hat und sich sein Fahrverhalten somit im Ramen des erlaubten Risikos bewegte, sodass ihm ein tatbildgemäßes Verhalten nicht angelastet werden kann. Der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher Folge zu geben und, weil sich die darnach unrichtige Rechtsansicht der Gerichte durch den gefällten - und bestätigten - Schuldspruch zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat, gemäß § 292 StPO mit einem Freispruch vorzugehen.
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