Spruch:
Die Urteile des Bezirksgerichtes Ybbs vom 18.Oktober 1989, GZ U 68/89-18, und des Landesgerichtes St.Pölten als Berufungsgericht vom 28.Mai 1990, GZ 20 Bl 31/90-5, verletzen das Gesetz in der Bestimmung des § 88 Abs. 1 StGB iVm § 14 Abs. 1 StVO.
Beide Urteile werden aufgehoben und es wird gemäß den §§ 292, 288 Abs. 2 Z 3 StPO in der Sache selbst erkannt:
Franz H***** wird von der Anklage, er habe am 9.Februar 1989 in Oberegging als Lenker eines Lastkraftwagens mit Anhänger dadurch, daß er an einer nicht geeigneten Stelle umkehrte, wodurch der mit seinem Personenkraftwagen entgegenkommende Michael K***** gegen die Deichsel des Anhängers prallte und eine Zerrung der Halswirbelsäule, eine Rißquetschwunde im Bereich der linken Hand sowie eine leichte Prellung des linken Kniegelenkes erlitt, diesen Verkehrsteilnehmer fahrlässig leicht am Körper verletzt und hiedurch das Vergehen der leichten Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB begangen, nach dem § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Gemäß dem § 366 Abs. 1 StPO werden die Privatbeteiligten Michael und Franz K***** mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Bezirksgerichtes Ybbs vom 18.Oktober 1989, GZ U 68/89-18, wurde der am 18.November 1967 geborene Kraftfahrer Franz H***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Geldstrafe verurteilt. Ihm liegt - wie aus dem Spruch ersichtlich - zur Last, durch unvorsichtiges Umkehren auf einer hiefür nicht geeigneten Stelle der Bundesstraße 25 (Freilandstraße) einen Verkehrsunfall (mit-)verschuldet zu haben, bei dem Michael K***** mit dem von ihm gelenkten PKW gegen die Anhängerdeichsel des LKW-Zuges prallte und hiebei am Körper leicht verletzt wurde.
Nach den diesem Schuldspruch zugrundegelegten Urteilsfeststellungen wollte Franz H***** am 9.Februar 1989 gegen 20,00 Uhr (bei Dunkelheit) mit dem von ihm gelenkten, 16 m langen LKW-Zug von einem rechts neben der Bundesstraße 25 (Freilandstraße) zwischen dem Autobahnanschluß Ybbs an der Donau und Wieselburg in Oberegging, Gemeindegebiet Bergland, gelegenen Parkplatz Richtung Westautobahn weiterfahren. Da er durch ein auf diesem Parkplatz abgestelltes Fahrzeug beim Einbiegen nach links in die Bundesstraße 25 (Richtung Autobahnanschluß Ybbs an der Donau) behindert war (S 34 dA), beabsichtigte er einen anderen, etwa 50 m weiter in Richtung Wieselburg links neben der Bundesstraße 25 gelegenen Parkplatz für dieses Wendemanöver zu benützen. Er fuhr deshalb mit dem LKW-Zug vom ersten Parkplatz nach rechts in die Bundesstraße 25 Richtung Wieselburg bis zur Höhe des zweiten, links neben dieser Freilandstraße gelegenen Parkplatzes, hielt dort unter Betätigung des linken Blinkers zunächst den LKW-Zug an, um zwei aus Richtung Wieselburg kommenden Fahrzeugen das Vorbeifahren zu ermöglichen, und lenkte dann, nachdem er sich überzeugt hatte, daß kein weiteres, aus Wieselburg entgegenkommendes Fahrzeug zu sehen war, den LKW-Zug in Schrittempo (mit einer Fahrgeschwindigkeit von rund 4 km/h) von der rechten Fahrbahnhälfte der Bundesstraße 25 nach links auf den Parkplatz (um dort zu wenden und sodann in Richtung Westautobahn zurückzufahren). Franz H***** hatte von seiner Position aus bei Beginn des Einbiegemanövers nach links in Richtung Wieselburg auf die dort in einer langgezogenen Rechtskurve verlaufende Bundesstraße 25 eine Sicht von 180 m. Der sich aus dieser Richtung mit einer Geschwindigkeit von mindestens 90 km/h (in Richtung Westautobahn) nähernde, von dem damals 19-jährigen Schüler Michael K***** gelenkte PKW der Marke Citroen BX 19 war für Franz H***** zu Beginn des Einbiegens mit dem LKW-Zug nach links nicht wahrzunehmen, weil das Fahrzeug des Michael K***** zu diesem Zeitpunkt noch 200 bis 250 m von der späteren Unfallstelle entfernt und somit für H***** (noch) nicht sichtbar war. Michael K*****, der damals mit Fernlicht fuhr, reagierte auf den (von ihm aus gesehen) nach rechts von der Bundesstraße auf den Parkplatz einbiegenden LKW-Zug, der in dieser Phase des Einbiegens die gesamte Fahrbahn der Bundesstraße blockierte, zu spät und stieß nach einer (verspätet eingeleiteten) Vollbremsung mit dem von ihm gelenkten PKW (zwischen Zugfahrzeug und Anhänger) gegen die Deichsel des LKW-Zuges, dessen Zugfahrzeug im Zeitpunkte des Anstoßes in seiner gesamten Länge bereits den Parkplatz erreicht hatte, dessen Anhänger sich aber noch zur Gänze (quer) auf der Fahrbahn der Bundesstraße befand. Durch den Aufprall entstand an dem von Michael K***** gelenkten PKW ein Totalschaden. Der durch die Sicherheitsgurte geschützte Michael K***** selbst erlitt bei diesem Unfall dem Grad nach leichte und mit einer Gesundheitsschädigung von mehr als drei, aber weniger als vierundzwanzig Tagen verbundene Verletzungen (Zerrung der Halswirbelsäule, Rißquetschwunde an der linken Hand sowie eine leichte Prellung des linken Kniegelenkes). Franz H***** blieb unverletzt; auch am LKW-Zug war kein Schaden festzustellen.
Das Bezirksgericht Ybbs erblickte in dem festgestellten Fahrmanöver des Franz H***** der Sache nach einen Verstoß gegen die Vorschrift des § 14 Abs. 1 StVO und meinte, daß unter den gegebenen Bedingungen ein Umkehren unzulässig und daher zu unterlassen gewesen wäre. Franz H***** habe demnach fahrlässig gehandelt. Diese Rechtsauffassung teilte auch das Landesgericht St.Pölten in seiner, der Berufung des Franz H***** (wegen Nichtigkeit und Strafe) nicht stattgebenden Berufungsentscheidung vom 28.Mai 1990, GZ 20 Bl 31/90-5 (= ON 27 des U-Aktes).
Der Schuldspruch des Franz H***** wegen Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB und die diesen Schuldspruch bestätigende Berufungsentscheidung des Landesgerichtes St.Pölten vom 28.Mai 1990 stehen - wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Rechtliche Beurteilung
Von einem Umkehren im Sinn des § 14 Abs. 1 StVO mit dem Ziel einer Weiterfahrt in entgegengesetzte Richtung kann nur gesprochen werden, wenn das Wenden mit dem Fahrzeug auf der (hier 7,6 m breiten) Fahrbahn selbst, also ohne Wechsel der Fahrbahn, vor sich geht (vgl Benes, Messiner, StVO8, ENr 3 zu § 14 StVO):
Da Franz H***** nicht durch Umkehren auf der Fahrbahn der Bundesstraße 25 in die entgegengesetzte Richtung weiterfahren, sondern dieses Ziel durch Einbiegen von der Bundesstraße nach links auf einen Parkplatz erreichen wollte, liegt entgegen der vom Erstgericht und vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung kein Verstoß gegen die Vorschrift des § 14 Abs. 1 StVO vor. Franz H***** hatte beim Einbiegen nach links auf den Parkplatz vielmehr die Vorschriften der §§ 12 Abs. 1, 13 Abs. 1 und 2 StVO zu beachten und gemäß dem § 19 Abs. 5 StVO den Vorrang gegenüber den aus Wieselburg entgegenkommenden, ihre Fahrtrichtung beibehaltenden Fahrzeugen zu wahren. Die Verletzung der Vorrangbestimmungen des § 19 StVO (durch einen nach § 19 Abs. 7 StVO Wartepflichtigen) setzt aber - unter Verhältnissen wie hier - die Wahrnehmbarkeit des bevorrangten Fahrzeuges voraus (vgl 11 Os 72,83/89). Eine Vorrangverletzung liegt demnach nur dann vor, wenn der Wartepflichtige (der Verurteilte Franz H***** im Zeitpunkt des Beginnes des Einbiegens nach links) bei gehöriger Aufmerksamkeit tatsächlich erkennen konnte, daß er gegenüber einem anderen Fahrzeug den Vorrang zu wahren hat. Dies trifft dann nicht zu, wenn für den Wartepflichtigen das die bevorrangte Fahrbahn benützende Fahrzeug noch gar nicht wahrnehmbar ist (Benes, Messiner, StVO8, ENr 167 und 210 zu § 19 StVO). Dem Vertrauensgrundsatz des § 3 StVO entsprechend darf in einem solchen Fall der Wartepflichtige (gegenüber einem für ihn noch nicht sichtbaren, an sich aber im Vorrang befindlichen Fahrzeug) davon ausgehen, daß sich der Lenker des bevorrangten (aber noch nicht wahrnehmbaren) Fahrzeuges vorschriftsmäßig verhalten, vor allem die zulässige Geschwindigkeit nicht überschreiten und auch das Gebot des Fahrens auf Sicht (§ 20 Abs. 1 StVO) beachten werde (Benes, Messiner, w.o., ENr 185 zu § 19 StVO sowie ENr 37 zu § 13 StVO):
Nach den Urteilsfeststellungen (gestützt auf das Gutachten des kraftfahrtechnischen Sachverständigen) befand sich der aus Wieselburg entgegenkommende, von Michael K***** gelenkte PKW im Zeitpunkt des Beginns des Einbiegevorganges des LKW-Zuges nach links noch eindeutig außerhalb des Sichtbereiches des Franz H***** (S 37 dA). Für den damals mit Fernlicht fahrenden Michael K***** wäre nach diesem Gutachten bei gehöriger Aufmerksamkeit und rechtzeitiger Reaktion ein sicheres Anhalten vor dem nach links einbiegenden (und zu diesem Zeitpunkt die gesamte Fahrbahn der Bundesstraße 25 versperrenden) LKW-Zug durchaus möglich gewesen (S 38 dA).
Das Bezirksgericht Ybbs traf zwar keine ausdrückliche Feststellung darüber, daß für Michael K***** bei rechtzeitiger und ihm auch zumutbarer Reaktion (durch Abbremsen des von ihm gelenkten Fahrzeuges vor dem durch Einbiegen nach links die Fahrbahn blockierenden LKW-Zug) der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Gegenteiliges hat aber weder das Bezirksgericht Ybbs noch das Landesgericht St.Pölten als Berufungsgericht angenommen. Eine solche (gegenteilige) Konstatierung wäre auf Grund der bisherigen Verfahrensergebnisse auch gar nicht indiziert.
Es bleibt noch zu prüfen, ob Franz H***** unter Berücksichtigung des Umstandes, daß er nach dem Gutachten des verkehrstechnischen Sachverständigen beim Einbiegen mit dem LKW-Zug nach links für eine (erhebliche) Zeitspanne (etwa 20 Sekunden) die gesamte Fahrbahn der Bundesstraße versperrt hatte (S 38 dA), in sinngemäßer Anwendung des § 13 Abs. 3 StVO allenfalls verpflichtet gewesen wäre, sich eines Einweisers zu bedienen, der durch Einnahme einer weiter in Richtung Wieselburg gelegenen Position die aus dieser Richtung kommenden Fahrzeuglenker vor dem LKW-Zug zu warnen gehabt hätte. Dies ist aber aus folgenden Erwägungen zu verneinen:
Abgesehen davon, daß Franz H***** im vorliegenden Fall mit einer Person als Einweiser nicht das Auslangen gefunden, sondern zumindest zwei Einweiser benötigt hätte, weil er für die erwähnte Zeitspanne (rund 20 Sekunden) auch für die von Ybbs an der Donau (von der Westautobahn) in Richtung Wieselburg fahrenden Fahrzeuge mit seinem LKW-Zug die Fahrbahn blockierte und für ihn die Sicht auch nach hinten auf die Fahrbahn in Richtung Ybbs an der Donau auf 250 bis 280 m begrenzt war (S 36 dA), ist die Bestimmung des § 13 Abs. 3 StVO (über die Beiziehung eines geeigneten Einweisers) nur für jene Extremfälle gedacht, in denen nach den konkreten Umständen des Falles damit gerechnet werden muß, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer auch bei vorschriftsmäßiger Fahrweise entweder überhaupt nicht oder nur schwer einen Unfall mit einem für ihn plötzlich auftauchenden Fahrzeug vermeiden kann. Bei der Beurteilung, ob eine derartige gefährliche Verkehrssituation besteht, darf aber derjenige, der eine potentielle Gefahrenlage schafft, grundsätzlich davon ausgehen, daß die anderen, für ihn derzeit (noch) nicht wahrnehmbaren Verkehrsteilnehmer sich vorschriftsmäßig verhalten. Er darf demnach im Hinblick auf den im § 3 StVO verankerten Grundsatz unter anderem darauf vertrauen, daß andere Fahrzeuglenker nicht mit überhöhter Geschwindigkeit fahren und auch das Gebot des Fahrens auf Sicht befolgen. Wenn daher - so wie hier - die Straße (nach beiden Richtungen) so weit überblickt werden kann, daß ein anderer, mit zulässiger Geschwindigkeit und auf Sicht fahrender Verkehrsteilnehmer bei gehöriger Aufmerksamkeit die Gefahrenquelle zeitgerecht erkennen und vor ihr ohne weiteres rechtzeitig anhalten kann, besteht keine Notwendigkeit, sich eines Einweisers zu bedienen (vgl Benes, Messiner StVO8, ENr 32, 34, 37 und 38 zu § 13 StVO).
Zusammenfassend ist somit festzuhalten, daß Franz H***** unter den vom Bezirksgericht Ybbs in dessen verurteilendem Erkenntnis vom 18.Oktober 1989 im einzelnen als erwiesen angenommenen Gegebenheiten zur Unfallszeit an der Unfallstelle ohne Verstoß gegen die Vorrangbestimmung des § 19 Abs. 5 StVO mit dem von ihm gelenkten LKW-Zug das Einbiegevorhaben von der Bundesstraße 25 nach links auf einen Parkplatz ausführen und gemäß § 3 StVO auf ein den (für die Benützung der Straße maßgebenden) Rechtsvorschriften entsprechendes Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer vertrauen durfte (vgl erneut 11 Os 72,73/89). Ihm kann somit kein Verstoß gegen die Vorrangregel des § 19 Abs. 5 StVO, aber auch keine aus sonstigen Gründen strafrechtlich relevante Fahrlässigkeit am Zustandekommen des Unfalls mit dem von Michael K***** gelenkten PKW angelastet werden, hat er doch nach dem Vorgesagten den durch die StVO gezogenen Rahmen des erlaubten Risikos im Straßenverkehr nicht überschritten.
Das verurteilende Erkenntnis des Bezirksgerichtes Ybbs und das den Schuldspruch dieses Gerichtes bestätigende Berufungsurteil des Landesgerichtes St.Pölten gereichen somit dem Verurteilten Franz H***** zum Nachteil.
Es war daher der von der Generalprokuratur gemäß dem § 33 Abs. 2 StPO erhobenen Beschwerde spruchgemäß stattzugeben.
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