OGH 11Os51/15g

OGH11Os51/15g2.6.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 2. Juni 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Ableidinger als Schriftführerin im Verfahren zur Unterbringung der Birgit G***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Betroffenen und deren Sachwalterin gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Schöffengericht vom 24. Juni 2014, GZ 30 Hv 11/14p‑60, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0110OS00051.15G.0602.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Birgit G***** gemäß § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Danach hat sie am 27. August 2013 in L***** unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer schizoaffektiven Störung und einer histrionischen Persönlichkeitsstörung beruht, ihren Vater Ludwig G***** am Körper verletzt, indem sie ihn zu Boden stieß, wobei die Tat eine an sich schwere Körperverletzung verbunden mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung, nämlich einen Bruch des linken Oberschenkelhalses, zur Folge hatte, und dadurch eine Tat begangen, die ihr, wäre sie zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, als das Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 erster und dritter Fall StGB zuzurechnen wäre.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen wendet sich die Betroffene mit einer auf Z 4 und ihre Sachwalterin mit einer auf Z 5 und 11 jeweils des § 281 Abs 1 (§ 433 Abs 1) StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Betroffenen:

Die Betroffene hat sich während des Hauptverfahrens (erfolglos: ON 40, 43, 51, ON 59 S 5) gegen die Bestellung (ON 40) und die Tätigkeit (ON 59 S 7 verso ff) des ‑ bereits von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren beigezogenen (ON 1 S 3, ON 7; schriftliches Gutachten ON 8) ‑ Sachverständigen aus dem Fach der Neurologie und Psychiatrie durch das Gericht gewandt und eine darin gelegene Verletzung der Waffengleichheit (Art 6 MRK) behauptet (ON 39, 42, 49, ON 59 S 3 verso).

Gegen die Abweisung ihres (vor Beginn der Vernehmung des Sachverständigen; vgl 15 Os 52/14g [15 Os 53/14d]; 11 Os 5/15t) in der Hauptverhandlung gestellten Antrags (ON 59 S 3 verso f) richtet sich ihre Verfahrensrüge (Z 4).

Deren Erledigung ist vorauszuschicken:

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde der Betroffenen stellte der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 28. Oktober 2014, GZ 11 Os 86/14b‑5, gemäß Art 89 Abs 2 B‑VG iVm Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B‑VG an den Verfassungsgerichtshof den Antrag, die Wortfolge „Sachverständigen oder“ in § 126 Abs 4 dritter Satz StPO idF BGBl I 2004/19 wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben.

Mit Erkenntnis vom 10. März 2015, AZ G 180/2014, G 216/2014, G 232/2014, G 42/2015, G 77/2015, sprach der Verfassungsgerichtshof (ua für das gegenständliche Verfahren) aus, dass die Wortfolge „Sachverständigen oder“ in § 126 Abs 4 dritter Satz StPO idF BGBl I 2004/19 verfassungswidrig war.

Danach stand diese Bestimmung im bis 31. Dezember 2014 geltenden gesetzlichen Umfeld (zur mit 1. Jänner 2015, BGBl I 2014/71, in Kraft getretenen Novellierung der Bestimmungen über die Bestellung von Sachverständigen in der StPO im vorliegenden Zusammenhang vgl Ratz, ÖJZ 2015, 5; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 370; dagegen Wess/Rohregger in ZWF 2015, 112 [116 f]) ‑ nur, aber immerhin ‑ insoweit im Widerspruch zu Art 6 Abs 3 lit d zweiter Fall MRK, als sie dem Angeklagten (hier: der Betroffenen) selbst dann verwehrte, das Vorliegen von Hinweisen auf eine (aus dessen Tätigkeit im Ermittlungsverfahren resultierende) „objektive“ (ie strukturelle) Befangenheit (§ 43 Abs 1 Z 3 StPO) des im Hauptverfahren beigezogenen Sachverständigen mit Aussicht auf Erfolg geltend zu machen, wenn der Sachverständige vom Staatsanwalt mit der Durchführung von Ermittlungen ‑ allenfalls auch in Form eines Erkundungsbeweises (§ 103 Abs 2 iVm § 91 Abs 2 StPO) - betraut war und sich die Anklage primär auf dessen Expertise stützt (Rz 39 des VfGH‑Erkenntnisses).

Die Abweisung des auf die Tätigkeit des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren (strukturelle Befangenheit) gestützten Antrags auf dessen Nichtbeiziehung widerspräche daher ‑ ausgehend von den Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs ‑ im Anlassfall dann Art 6 Abs 3 lit d zweiter Fall MRK, wenn er (mit oder ohne Auftrag der Staatsanwaltschaft) Ermittlungen in Form eines Erkundungsbeweises durchgeführt und sich das erkennende Gericht (bei der Feststellung entscheidender Tatsachen) „primär“ auf sein Gutachten gestützt hätte. Das Urteil wäre (nur) bei kumulativem Vorliegen dieser beiden Voraussetzungen in Stattgebung der Verfahrensrüge aufzuheben.

Hier war der Sachverständige, wovon sich der Oberste Gerichtshof in freier Beweiswürdigung aufgrund des Aktenstandes überzeugen konnte (§ 285f StPO; vgl RIS‑Justiz RS0118977; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 50), ausschließlich damit betraut, nach entsprechender Befundaufnahme kraft seines medizinischen Fachwissens Aufschluss über den ‑ auf Basis der damaligen Verdachtslage bereits indizierten (ON 5, 6) ‑ psychischen Zustand der Betroffenen zu geben, um eine Beurteilung deren Zurechnungsfähigkeit (§ 11 StGB) und des Vorliegens der Voraussetzungen des § 21 Abs 1, Abs 2 StGB sowie des § 45 Abs 1 StGB zu ermöglichen (ON 7). Die Grenzen dieses Auftrags hielt er strikt ein (ON 8). Er war daher keineswegs mit (eigenständigen) Ermittlungen, umso weniger mit Erkundungsbeweisführung (vgl RIS‑Justiz RS0118123 [T2]) befasst.

Schon deshalb wurden ‑ entgegen der Verfahrensrüge - Verteidigungsrechte (§ 281 Abs 1 Z 4 StPO) der Betroffenen nicht hintangesetzt, ohne dass es darüber hinaus einer Klärung der Frage bedürfte, ob das angefochtene Urteil „primär“ auf das Gutachten dieses Sachverständigen gestützt wurde.

Darauf, dass das Erstgericht überdies auf Kontrollbeweise zurückgriff (vgl insoweit 13 Os 43/14v), indem es seinen Ausspruch über entscheidende Tatsachen auch auf die ‑ mit der Einschätzung des Sachverständigen im Einklang stehenden ‑ Krankengeschichten der Beschwerde-führerin (ON 5, 6) und (in der Unterbringungssache der Betroffenen, AZ 5 Ub 171/13k des Bezirksgerichts Linz, eingeholten) Expertisen zweier weiterer medizinischer Sachverständiger aus dem Fach der Psychiatrie (ON 4, 9 und 11 in ON 14) gründete (US 8), sei bloß noch ergänzend hingewiesen.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Sachwalterin:

Die Feststellung eines auf die Herbeiführung schwerer Verletzungsfolgen gerichteten Willens der Betroffenen (US 4) leitete das Schöffengericht ‑ frei von Verstößen gegen Gesetze der Logik oder grundlegende Erfahrungswerte (Z 5 vierter Fall; RIS‑Justiz RS0116882, RS0098671) ‑ aus den konstatierten äußeren Tatumständen (Versetzen eines heftigen beidhändigen Stoßes gegen den Oberkörper des 75‑jährigen Opfers; US 4, 8) ab. Dabei ließ es weder die leugnende Verantwortung der Betroffenen (US 7) noch das zustandsbedingte (§ 11 StGB) Fehlen des biologischen Schuldelements (US 8) unerwogen (Z 5 zweiter Fall).

Indem die Mängelrüge (Z 5) - ohne an der Gesamtheit der Entscheidungsgründe Maß zu nehmen - einzelne Verfahrensergebnisse eigenständig würdigt und daraus dem Beschwerdestandpunkt entsprechend günstigere Schlüsse zieht als die Tatrichter, zeigt sie keinen Begründungsmangel im Sinne des angesprochenen Nichtigkeitsgrundes auf, sondern bekämpft bloß die Beweiswürdigung des Schöffengerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.

Die Sanktionsrüge (Z 11) mutmaßt, die angeordnete Einweisung lasse keine Besserung des Gesundheitszustands der Betroffenen erwarten, woraus eine „vermutlich lebenslange Sicherungsmaßnahme“ folge, die „zur Schwere der nicht vorsätzlich, erst‑ und einmalig begangenen Tat in keinerlei angemessenem Verhältnis“ stehe. Mit dieser ‑ zudem urteilsfremden (siehe die Feststellungen zur subjektiven Tatseite US 4) ‑ Argumentation wird kein Sachverhalt behauptet, der einer der Anfechtungskategorien des geltend gemachten (oder eines sonstigen) Nichtigkeitsgrundes unterläge.

Hinzugefügt sei, dass die Erfolgsaussichten einer Behandlung nach dem Gesetz (§ 21 Abs 1 StGB) kein Kriterium für die Anordnung der Maßnahme darstellen (Ratz in WK2 StGB Vor §§ 21‑25 Rz 5; vgl RIS‑Justiz RS0090444). Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten wird durch die gesetzliche Determinierung der Voraussetzungen einer qualifizierten Anlasstat (§ 21 Abs 1, Abs 3 StGB) und spezifischer qualifizierter Gefährlichkeit (§ 21 Abs 1 StGB) ‑ deren Fortdauer überdies von Amts wegen mindestens alljährlich zu prüfen ist (§ 25 Abs 1, Abs 3 StGB) ‑ Rechnung getragen (vgl dazu Ratz in WK2 StGB Vor §§ 21‑25 Rz 6).

 

Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher gemäß § 285d Abs 1 StPO schon bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen, woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Erledigung der Berufungen folgt (§ 285i StPO).

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