OGH 10ObS92/17b

OGH10ObS92/17b14.11.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gabriele Griehsel (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Mahringer Steinwender Bestebner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. Mai 2017, GZ 11 Rs 22/17k‑36, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 21. Dezember 2016, GZ 18 Cgs 62/15y-32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00092.17B.1114.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung:

Die 1960 geborene Klägerin beantragte am 19. 12. 2014 die Zuerkennung der Berufunfähigkeitspension. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 10. 3. 2015 ab, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege.

Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension zuletzt ab 1. 12. 2015. Sie genieße Berufsschutz als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester, insbesondere habe sie vom 20. 4. bis 6. 10. 2015 im Herz Jesu Asyl qualifiziert im erlernten Beruf gearbeitet.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin genieße keinen Berufsschutz, weil sie nicht zumindest 90 Monate als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester gearbeitet habe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest:

Die Klägerin, die in Bosnien eine Ausbildung zur Krankenschwester absoliert hatte, war vom 1. 1. 2000 bis 18. 8. 2003 (44 Monate) als Sanitätshilfe und vom 19. 8. 2003 bis 19. 1. 2009 sowie vom 1. 2. 2013 bis 25. 9. 2014 (85 Monate) als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester tätig. Vom 20. 4. bis 15. 11. 2015 war sie im Herz Jesu Heim in S***** als „Hilfsarbeiterin“ beschäftigt. Aufgrund ihrer (im Einzelnen festgestellten) gesundheitlichen Einschränkungen sind ihr eine Tätigkeit als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester oder Verweisungstätigkeiten im Bereich ihres erlernten Berufs nicht mehr möglich. Die Möglichkeit einer beruflichen Rehabilitation ist auszuschließen. Mit ihrem medizinischen Leistungskalkül sind noch verschiedene nicht qualifizierte Tätigkeiten vereinbar.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, der Klägerin komme kein Berufsschutz zu, weil sie in den letzten 15 Jahren vor dem 1. 12. 2015 keine 90 Monate einer qualifizierten Tätigkeit erworben habe.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die mit Berufung bekämpfte Feststellung, wonach die Klägerin vom 20. 4. bis 15. 11. 2015 im Herz Jesu Heim in S***** als „Hilfsarbeiterin“ beschäftigt gewesen sei, sei Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der Klägerin ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die beklagte Partei hat die ihr freigestellte Revisionsbeantwortung nicht erstattet.

1. Die Klägerin macht nach dem Inhalt ihrer Revisionsausführungen – wie auch schon in der Berufung im Rahmen der Bekämpfung der Beweiswürdigung – Feststellungsmängel aufgrund unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache geltend. Die unrichtige Benennung des Revisionsgrundes („Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens“) schadet nicht (§ 84 Abs 2 ZPO).

2. Als berufsunfähig gilt die Versicherte, deren Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden versicherten Person von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt wurde (§ 273 Abs 1 ASVG).

3. Die Frage, ob eine Versicherte Berufsschutz genießt, ist von Amts wegen zu prüfen. Die Klärung dieser Frage ist in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung (RIS-Justiz RS0042477 [T2], RS0084428). Nur dann, wenn jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, dass eine Versicherte eine qualifizierte Tätigkeit ausübte, bedarf es keiner Feststellungen über die genaue Art der Tätigkeit (RIS-Justiz RS0084428 [T1]).

4. Die Ausführung des Erstgerichts in seinen Feststellungen, die Klägerin sei (in dem für die Bejahung des Berufsschutzes entscheidenden Zeitraum) vom 20. 4. bis 15. 11. 2015 als „Hilfsarbeiterin“ beschäftigt gewesen, ist keine Tatsachenfeststellung, sondern eine rechtliche Beurteilung – Hilfsarbeiter ist ein Rechtsbegriff –, der mangels Feststellung der genauen Art der von der Klägerin ausgeübten Tätigkeit die Tatsachengrundlage fehlt (vgl RIS‑Justiz RS0042477).

5. Zur näheren Abklärung ist eine Aufhebung und Zurückverweisung unumgänglich. Im fortzusetzenden Verfahren wird die genaue Art der Tätigkeit der Klägerin im relevanten Zeitraum zu erheben und es werden darüber Feststellungen zu treffen sein.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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