OGH 10ObS89/87

OGH10ObS89/8720.10.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Köck und Karl Siegfried Pratscher als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf H***, Pensionist, 8052 Graz, Faunastraße 52, vertreten durch Dr. Gerda Gerersdorfer-Reisch, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1092 Wien, Roßauerlände 3, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Juni 1987, GZ 7 Rs 1012/87-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Steiermark in Graz vom 12. November 1986, GZ 8 C 20/86-22 (34 Cgs 59/87 des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz) bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das Urteil des Erstgerichtes und das angefochtene Urteil werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz zurückverwiesen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit dem rechtskräftig gewordenen Urteil des Erstgerichtes vom 14. Dezember 1983, 8 C 7/83-21, wurde die beklagte Partei schuldig erkannt, dem Kläger ab 6. Juli 1983 die Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe zu bezahlen. Zum Gesundheitszustand des Klägers stellte das Erstgericht damals fest, daß er am 6. Juli 1983 einen Bruch der linken Kniescheibe erlitt, daß die Kniescheibe am 14. August 1983 entfernt wurde und daß er wegen der damit verbundenen schmerzhaften Bewegungseinschränkung im linken Kniegelenk ab 6. Juli 1983 arbeitsunfähig war.

Mit Bescheid vom 24. Jänner 1986 entzog die beklagte Partei dem Kläger die Invaliditätspension mit Ablauf des Monats Februar 1986. Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension ab 1. März 1986 gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte hiezu im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Der am 14. Mai 1933 geborene Kläger, der keinen Beruf erlernte, war bis 1961 Bauhilfsarbeiter, bis 1963 Pelzveredelungsarbeiter, bis 1968 Ofenarbeiter und bis 1979 Wacheorgan. Es besteht bei ihm ein Zustand nach der Entfernung der linken Kniescheibe mit Muskelverschmächtigung am linken Bein (der Umfang des linken Oberschenkels ist um 3 cm, der des linken Unterschenkels um 1 cm vermindert), eine Beugebehinderung des linken Kniegelenks sowie eine endlagige Streck- und Beugebehinderung im rechten Ellenbogengelenk und eine endlagige Innen- und Außendrehbehinderung am rechten Unterarm nach einem Bruch des Speichenköpfchens. Die Gangleistung und Belastungsfähigkeit der Beine ist im Hinblick auf das linke Kniegelenk herabgesetzt, die Belastungsfähigkeit des Achsenskeletts ist nur im geringsten Ausmaß vermindert. Die Arbeitsfähigkeit wird durch den Zustand der Arme nicht herabgsetzt. Die Verwendung einer Stützkrücke ist nicht notwendig.

Der Kläger kann seit Februar 1986 wieder leichte und mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen sowohl in geschlossenen Räumen als auch im Freien verrichten. Bück- und Hebearbeiten sind um zwei Drittel zu verkürzen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten auszuschließen. Ein gelegentliches Stiegensteigen kann ihm zugemutet werden. Dasselbe gilt für Arbeiten, bei denen er abwechselnd gehen und stehen kann, wobei Tätigkeiten im Sitzen nicht unbedingt vorkommen müssen. Radfahren, laufen und das Lenken eines "normalen" PKW sind ihm nicht möglich.

In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, daß der Kläger bei Berücksichtigung der - im einzelnen

festgestellten - Anforderungen, die an den Beruf eines Nachtwächters oder Fabriksportiers gestellt werden, diese beruflichen Tätigkeiten wieder ausüben könne. Die Voraussetzungen für die Entziehung der Invaliditätspension seien daher gegeben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der Kläger sei wieder imstande, die Tätigkeit eines Nachtwächters oder Fabriksportiers auszuüben. Besonders im Alarmfall sei es ihm zuzumuten, zur nächstgelegenen Alarmeinrichtung zu eilen und dabei auch über Stiegen zu gehen. Die Notwendigkeit, dabei größere Strecken zurückzulegen, könne in Einzelfällen für den Nachwächter, nicht aber für den Fabriksportier gegeben sein. Seine Tätigkeit bestehe vor allem in der Beobachtung des Torverkehrs, der Auskunftserteilung und der Überprüfung des Fahrzeugverkehrs. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung zurückzuverweisen.

Die beklagte Partei erstatte keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die Frage, ob das Berufungsverfahren mangelhaft war, muß nicht geprüft werden, weil die Vorinstanzen wesentliche Feststellungen unterließen; dies macht aber eine neuerliche Verhandlung und Entscheidung notwendig.

Die Vorinstanzen schenkten nämlich dem Umstand zuwenig Beachtung, daß die beklagte Partei dem Kläger eine schon zuerkannte Leistung entzog. Hiezu wird in § 99 Abs 1 ASVG bestimmt, daß eine laufende Leistung, sofern nicht der Anspruch ohne weiteres Verfahren erlischt, zu entziehen ist, wenn die Voraussetzungen des Anspruchs nicht mehr vorhanden sind. Aus den Wörtern "nicht mehr" ergibt sich eindeutig, daß die Entziehung nur in Betracht kommt, wenn sich die Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung der Leistung geändert haben. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen kommt nur eine wesentliche Änderung in Betracht. Dies entspricht auch den Wirkungen der materiellen Rechtskraft von Entscheidungen bzw. nach einem Teil der Verwaltungsrechtslehre (vgl. Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht4 RZ 461 f) der Verbindlichkeit von Bescheiden (vgl. hiezu für das Verwaltungsverfahren Antioniolli-Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht2 537 ff, Walter-Mayer aaO RZ 481 f und VwSlg. 3874 A/1955, 8035 A/1971, 8577 A/1974; für das gerichtliche Verfahren Fasching, Zivilprozeßrecht Rz 1497 ff und 1531 ff sowie SZ 41/179, JBl 1978, 539, EvBl 1987/18 uva). Es ist nicht anzunehmen, da der Gesetzgeber im § 99 ASVG und in den gleichartigen Bestimmungen der anderen Sozialversicherungsgesetze vom Grundsatz der materiellen Rechtskraft abgehen wollte (vgl. Schrammel in Tomandl, System, 3.ErgLfg. 181 f; Teschner-Fürböck in MGA ASVG 42.ErgLfg. 576).

Eine Änderung der Verhältnisse kann im Fall einer Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes des Pensionsberechtigten bestehen (vgl. § 99 Abs 3 ASVG). In Betracht kommt aber etwa auch die Wiederherstellung oder Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an das Leiden (in diesem Sinn schon Oberlandesgericht Wien SSV 20/2 mwN).

In erster Linie ist daher zu prüfen, ob sich der körperliche oder geistige Zustand des Pensionsberechtigten gegenüber demjenigen wesentlich gebessert hat, der zur Zeit der Gewährung der Leistung bestand. Ohne Bedeutung ist es, ob dieser Zustand die Gewährung der Leistung rechtfertigen konnte. Auch wenn es nicht der Fall war, bietet § 99 ASVG keine Möglichkeit, die Wirkung der materiellen Rechtskraft der Entscheidung, mit dem die Leistung gewährt wurde, zu brechen und die Leistung zu entziehen (vgl. Schrammel aaO). Es genügt daher nicht, wenn sich in dem Verfahren über die Entziehung der Pension herausstellt, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der Pension nicht erfüllt sind, weil der Pensionsberechtigte noch die hiefür maßgebenden Berufstätigkeiten ausüben kann. Erforderlich ist vielmehr, daß dies auf eine Änderung der Verhältnisse in dem dargestellten Sinn zurückzuführen ist.

Unter diesem Gesichtspunkt sind die Feststellungen des Erstgerichtes, die zu der vom Berufungsgericht übernommenen Schlußfolgerung führten, daß der Kläger seit Februar 1986 zumindest wieder die Tätigkeit eines Portiers ausüben kann, unzureichend. Es ergibt sich daraus nämlich nicht, inwieweit dies darauf zurückzuführen ist, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Klägers gegenüber der Gewährung der Invaliditätspension verbesserte, oder ob sich das Leistungskalkül des Klägers änderte, weil er sich an seine Leiden gewöhnte und anpaßte. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß ihm die Invaliditätspension wegen der schmerzhaften Behinderungseinschränkung im linken Kniegelenk gewährt wurde und daß auch das Erstgericht noch eine Beugebehinderung des linken Kniegelenks feststellte.

Nach den Ausführungen des Sachverständigen für Unfallchirurgie trat zwar eine wesentliche Besserung seit dem Zeitpunkt der Gewährung der Invaliditätspension durch Wegfall der Frische der Verletzung, durch Anpassung und Gewöhnung und durch Wegfall der Ruhestellung mit einem Oberschenkelgips ein. Abgesehen davon, daß dieses Gutachten in den Feststellungen des Erstgerichtes keinen Niederschlag fand, ist es nicht ausreichend. Zunächst ist die Annahme des Sachverständigen, der Kläger habe zur Zeit der Untersuchung, die zur Gewährung der Invaliditätspension führte, einen Oberschenkelgips getragen, aktenwidrig. Außerdem muß sich aus den Feststellungen und damit auch aus dem Gutachten im einzelnen ergeben, worin die Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands besteht oder welche Beschränkungen des Leistungskalküls, das bei Gewährung der Pension bestand, infolge der Gewöhnung und Anpassung an die vorhandenen Leiden weggefallen sind. Die allgemein gehaltene Feststellung, daß es zu einer Besserung oder zu einer Gewöhnung und Anpassung kam, reicht hingegen nicht aus. Da somit wesentliche Tatsachen von den Vorinstanzen nicht festgestellt wurden, waren ihre Urteile aufzuheben und die Rechtssache war zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das nunmehr gemäß § 101 Abs 1 Z 2 ASGG zuständige Landesgericht zurückzuverweisen. Dieses wird im fortzusetzenden Verfahren ergänzende Feststellungen in dem aufgezeigten Sinn zu treffen und die hiezu erforderlichen Beweise aufzunehmen haben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.

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