OGH 10ObS72/16k

OGH10ObS72/16k24.1.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, Deutschland, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. April 2016, GZ 23 Rs 7/16z‑17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 17. September 2015, GZ 44 Cgs 269/14m‑13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00072.16K.0124.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

Die am 11. Juni 1967 geborene Klägerin, eine österreichische Staatsbürgerin, hat in Österreich ab 1985 unter anderem in der Gastronomie gearbeitet, ehe sie 2004 eine Ausbildung zur Versicherungsfachfrau absolvierte. In diesem Beruf hat sie in Österreich bis 2011 gearbeitet. In Österreich hat die Klägerin 48 Versicherungsmonate nach dem ASVG, davon 25 Beitragsmonate und 23 Monate Ersatzzeit erworben. Im Jahr 2011 übersiedelte die Klägerin nach Deutschland. Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt gewährte der Klägerin aufgrund eines am 9. Jänner 2014 geschlossenen Vergleichs für den Zeitraum von 1. Mai 2011 bis 31. Juli 2014 eine befristete Invaliditätspension.

Aufgrund der psychischen Polymorbilität ist die Klägerin derzeit arbeitsunfähig. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Klägerin nach einer fachärztlich-psychiatrischen Behandlung, die allenfalls auch einen stationären Aufenthalt einschließen kann, mit einer anschließenden psychopharmakologischen Medikation nach etwa einjähriger Behandlungsdauer wieder leichte und fallweise mittelschwere körperliche sowie einfache bis mittelschwere geistige Arbeiten in einem Achtstundentag erbringen kann.

Mit Bescheid vom 8. September 2014 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 25. April 2014 auf Weitergewährung der mit 31. Juli 2014 befristeten Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass Invalidität nicht dauerhaft vorliege. Ab 1. August 2014 liege jedoch weiterhin vorübergehende Invalidität vor, weshalb als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten sei. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig.

Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin auf unbefristete Gewährung der Invaliditätspension über den 31. Juli 2014 hinaus ab, sprach aus, dass ab 1. August 2014 vorübergehende Invalidität in der Dauer von mehr als sechs Monaten vorliege, dass als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit die Einleitung einer fachärztlich-psychiatrischen Behandlung und der Einsatz einer ausreichenden psychopharmakologischen Medikation abzuwarten sei, dass Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien und dass ab 1. August 2014 für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und ließ die Revision – im Hinblick auf die eindeutige Rechtslage – mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Klägerin nicht beantwortete Revision der beklagten Partei ist im Hinblick auf die zwischenzeitig ergangene Entscheidung 10 Obs 133/15d vom 20. Dezember 2016 nicht zulässig.

In ihrer Revision macht die beklagte Partei zusammengefasst geltend, dass der verfahrensgegenständliche Sachverhalt unter Art 11 Abs 3 lit e der Verordnung (EG) 883/2004 zu subsumieren sei. Dementsprechend unterliege die Klägerin den Rechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats Deutschland, weshalb sie ab 1. August 2014 keinen Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung für die weitere Dauer ihrer vorüber-gehenden Invalidität habe.

Dazu ist auszuführen:

Der Oberste Gerichtshof hat in der am 20. Dezember 2016 zu AZ 10 ObS 133/15d ergangenen Entscheidung ausführlich zu der auch hier zu beurteilenden Frage Stellung genommen, ob einer in Deutschland wohnhaften Klägerin, die unmittelbar zuvor von der Pensionsversicherungsanstalt eine befristete Invaliditätspension bezogen hat, für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung zusteht.

Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

1. Im Kontext der unionsrechtlichen Sozialrechtskoordinierung stellt das Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 lit a der VO 883/2004 dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 .

1.1. Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Art 11 Abs 1, dass Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Das nach den Kollisionsnormen der VO 883/2004 zu bestimmende Sozialrechtsstatut ist auf den gesamten Sachverhalt anzuwenden. Es gilt in ein‑ und demselben Zeitpunkt für sämtliche Zweige der Systeme sozialer Sicherheit, die von Art 3 der Verordnung erfasst sind. Im zeitlichen Ablauf kann es allerdings zu einem Statutenwechsel kommen.

1.2. Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 88/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12 bis 16 und schließlich nach Art 11 Abs 3 selbst.

1.3. Nach Art 11 Abs 3 lit a der VO 883/2004 ist für die Erbringung einer Geldleistung bei Krankheit primär der Beschäftigungsstaat zuständig. Eine Beschäftigung liegt im Fall der Klägerin nicht vor; ebenso wenig bezieht die Klägerin eine Leistung nach Art 11 Abs 2 der Verordnung (sie wollte mit ihrem Pensionsantrag erst eine solche erlangen).

1.4. Aus Art 11 Abs 3 lit e der VO 883/2004 ergibt sich somit für die Klägerin die (subsidiäre) Zuständigkeit des Wohnsitzstaats.

2. Ist zwar an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat für die Erbringung der Leistung zuständig, ist allerdings nach der Rechtsprechung des EuGH der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw den Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH 30. 6. 2011, C‑388/09, da Silva Martins, ECLI:EU:C:2011:439, Rz 48, zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.

2.1. Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH 21. 7. 2011, C‑503/09, Stewart, ECLI:EU:C:2011:500, Rz 77 ff).

2.2. In seiner Rechtsprechung stellt der EuGH darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungsbeiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.

3. In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist.

3.1. Im Fall der Klägerin soll der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar an den Bezug einer befristeten Invaliditätspension aus Österreich anschließen. Sie hat Versicherungszeiten in Österreich erworben; ihr Wohnsitz lag bereits in einem zeitlichen Nahebereich zur ursprünglichen Antragstellung auf Invaliditätspension und jedenfalls auch bei der Antragstellung auf Weitergewährung im EU‑Ausland. Sie bezieht im EU-Ausland keine Erwerbsunfähigkeitsrente.

3.2. Das Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die von der Klägerin in Österreich entrichteten Pensionsversicherungs-beiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und Leistungsverlust allein durch die im Jahr 2011 vorgenommene Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre nämlich im vorliegenden Fall auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen; der Wohnsitzmitgliedstaat kennt keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch die erworbenen Versicherungszeiten sowie durch den Bezug einer befristeten Invaliditätspension dokumentiert.

3.3. Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass die Klägerin Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen sie überhaupt erst Anspruch auf Rehabilitationsgeld hat, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entsprechen, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.

3.4. In diesem Fall kommen der Klägerin die Regeln des Art 45 ff iVm Art 50 ff der VO 883/2004 zugute. Da sie – unbestritten – die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht erfüllt, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der Verordnung ins EU-Ausland zu exportieren.

4. Die Entscheidung des Berufungsgerichts entspricht der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu der hier zu beurteilenden Fallkonstellation.

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