Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Die am 14. 10. 1925 geborene Klägerin ist über ein Tracheostoma an ein für sie lebensnotwendiges Beatmungsgerät angeschlossen. Außerdem benötigt sie ein liegendes Pulsoxmeter, einen Harnblasenkatheter, einen liegenden Luftbefeuchter und ein Sauerstoffkonzentrationsgerät. Ihre Ernährung erfolgt über eine liegende PEG-Sonde. Aufgrund des Angewiesenseins auf das Beatmungsgerät leidet die Klägerin an völligem Selbständigkeitsverlust. Sie kann nicht sprechen und benötigt bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens sowie bei der laufenden Wartung des Beatmungsgeräts und Pflege des Katheters Hilfe. Sie muss regelmäßig während des Tages und der Nacht betreut werden, wobei wegen der Gefahr eines Defekts am Beatmungsgeräts diese Betreuung zeitlich nicht koordinierbar ist. Die Klägerin kann ihre Arme und Beine anheben und ausstrecken und mit einem Strohhalm trinken.
Mit Bescheid vom 7. 5. 2004 hat die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Bauern der Klägerin Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. 3. 2004 zuerkannt.
Das Erstgericht sprach der Klägerin Pflegegeld der Stufe 7 ab 1. 3. 2004 zu. Der durchschnittliche monatliche Pflegebedarf betrage 223 Stunden. Infolge des Angewiesenseins auf ein Beatmungsgerät liege ein der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtender Zustand vor.
Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Sinne eines Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 6 ab. Wohl sei die Klägerin durch das Angewiesensein auf das Beatmungsgerät fast völlig immobil; sie könne aber Arme und Beine bewegen und sei in der Lage, dies auch funktionell umzusetzen, weil sie mit Hilfe eines Strohhalms trinken könne.
Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 ZPO normierten Qualität vorliege und das Berufungsgericht nicht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich außerordentliche Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des klagsstattgebenden Ersturteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat von der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung nicht Gebrauch gemacht.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, da eine Klarstellung geboten ist, inwieweit die Fähigkeit zu minimalen zielgerichteten Bewegungen einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 7 ausschließt. Sie ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Ein Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 7 setzt nach § 4 Abs 2 BPGG voraus, dass der Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt und entweder keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich sind (Z 1) oder ein gleichzuachtender Zustand vorliegt (Z 2). Diese Fassung erhielt § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG mit der BPGG-Novelle 1998 (BGBl I 1998/111), wobei die gesetzliche Neudefinition in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes erfolgte (RIS-Justiz RS0106363 [T9]). In den Gesetzesmaterialien (RV 1186 BlgNR 20. GP 11) heißt es dazu:
„Die Neudefinition der Stufe 7 dient gleichfalls der Beseitigung von Abgrenzungsproblemen. Anstelle des Kriteriums 'praktische Bewegungsunfähigkeit' sollen in das Gesetz in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes die Begriffe 'zielgerichtete Bewegungen' und 'funktionelle Umsetzung' Aufnahme finden. In den Fällen der Z 1 ist eine funktionelle Umsetzung, das heißt aktive Durchführung willentlich geplanter Bewegungen keiner der vier Extremitäten möglich. Kann der Pflegebedürftige beispielsweise durch den Einsatz von hochtechnischen Geräten mit dem Mund oder den Augen eine willentlich geplante Aktion durchführen zB langsamst am PC Worte schreiben , ist er trotzdem in die Stufe 7 einzuordnen, da für nahezu alle Alltagsverrichtungen und Tätigkeiten die Hilfe einer anderen Person notwendig ist. Bei diesen Personen ist etwa auch die Hilfestellung beim Trinken in Form vom Führen des Glases und die richtige Lagerung dazu erforderlich. Dieser Pflegeeinsatz muß rund um die Uhr geleistet werden und erfordert auch ein hohes Maß an praktischem Wissen der Pflegeperson.
Ein gleichzuachtender Zustand liegt etwa dann vor, wenn der pflegebedürftige Mensch an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere auf Grund des Angewiesen-Seins auf bestimmte lebenserhaltende technische Geräte nicht nützen kann und dadurch für alle Alltagsverrichtungen auf die Hilfe einer Pflegeperson angewiesen ist. Darunter ist etwa nicht die stundenweise Einschränkung der Beweglichkeit wegen der Durchführung von Infusionen wie es auch bei der Dialyse vorkommt zu verstehen."
In der Judikatur des Obersten Gerichtshofes wird für die Unmöglichkeit zielgerichteter Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung (§ 4 Abs 2 Stufe 7 Z 1 BPGG) verlangt, dass ein Pflegebedürftiger zu keinerlei willentlich gesteuerten Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, in der Lage ist (10 ObS 33/98w = SSV-NF 12/18; RIS-Justiz RS0106363 [T5]). Gefordert wird „praktische Bewegungsunfähigkeit", nicht „vollständige Bewegungsunfähigkeit" (10 ObS 385/97h = SSV-NF 11/152; 10 ObS 267/03t; RIS-Justiz RS0106363 [T2]). Der Zustand muss in seinen funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommen (10 ObS 82/01h = SSV-NF 15/50; RIS-Justiz RS0106363 [T4]). Für die Stufe 7 ist nicht erforderlich, dass der pflegebedürftige Mensch zielgerichtete Bewegungen noch zur Vornahme einer Betreuungs- und Hilfsverrichtung iSd §§ 1 und 2 EinstV einsetzen kann (10 ObS 90/98b = SSV-NF 12/90; RIS-Justiz RS0106363 [T15]). In der Judikatur (siehe die Darstellung bei Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld [2004] Rz 358) wurde eine die Pflegegeldstufe 7 ausschließende Beweglichkeit vor allem dann angenommen, wenn aktive Bewegungen ausgeführt werden können, durch die die Betreuung insgesamt etwas vereinfacht wird, da nicht unbedingt jemand permanent in der Nähe des Betroffenen sein muss bzw der Betroffene nicht ständig unter Beobachtung gehalten werden muss (Greifeneder/Liebhart aaO Rz 358). In diese Richtung gehen einerseits die Fähigkeit zur selbständigen Veränderung der Lage im Bett oder eine gewisse Fähigkeit zum selbständigen Essen und Trinken, andererseits die Möglichkeit, mit einer Rufglocke, die der Pflegebedürftige ergreifen kann, einen Rufkontakt herzustellen.
In diesem Sinn kann aber die Pflegegeldstufe 7 nicht schon dann ausgeschlossen werden, wenn die pflegebedürftige Person - wie hier - in der Lage ist, Arme und Beine anzuheben und auszustrecken sowie mit einem Strohhalm zu trinken. Das Anheben und Ausstrecken von Armen und Beinen stellt zwar eine Beweglichkeit dar, ist aber für sich allein nicht auf einen darüber hinausgehenden Zweck ausgerichtet, worauf die Revision zutreffend hinweist. Hinsichtlich des Trinkens mit einem Strohhalm ist nicht klargestellt, ob sich diese Fähigkeit auf das Vorhandensein des Schluckreflexes bezieht oder auch auf das selbständige Ergreifen und Halten einer Tasse oder eines Glases. Nur im zweiten Fall kann von einer aktiven zweckgerichteten Beweglichkeit gesprochen werden; das bloße Halten eines Gegenstandes, der zugereicht wird und wieder abgenommen werden muss, genügt dafür nicht, weil damit keine relevante Vereinfachung der Pflege verbunden wäre.
Sollte sich herausstellen, dass die aktive Durchführung zielgerichteter Bewegungen bei der Klägerin an sich noch möglich ist, müssen weiters allfällige Auswirkungen des Angewiesenseins der Klägerin auf das Beatmungsgeräts auf ihre Beweglichkeit geklärt werden. Die Judikatur geht davon aus, dass von § 4 Abs 2 Stufe 7 Z 2 BPGG ein Zustand erfasst wird, in dem zwar ein gewisses Maß an zielgerichteten Bewegungen gegeben ist, diese eingeschränkte Mobilität aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel (zB ein Beatmungsgerät) nicht funktionell genutzt werden kann, sodass in Wirklichkeit eine umfassende Einschränkung der Beweglichkeit vorliegt (10 ObS 2337/96s = SSV-NF 10/129; ebenso Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich [1994] 199 und Pfeil, Bundespflegegeldgesetz [1996] 99). Diese Ansicht wurde in einer Reihe weiterer Entscheidungen wiederholt (zB 10 ObS 2434/96f = SSV-NF 10/135; 10 ObS 2468/96f = SSV-NF 11/9; 10 ObS 385/97h = SSV-NF 11/152; 10 ObS 33/98w = SSV-NF 12/18). Entscheidend ist also, dass die an sich noch vorhandene Restbeweglichkeit gerade wegen des Angewiesenseins auf das technische Hilfsmittel nicht mehr nutzbringend eingesetzt werden kann, sodass die pflegebedürftige Person deshalb für die Alltagsverrichtungen auf die Unterstützung einer Pflegeperson angewiesen ist (Greifeneder/Liebhart aaO Rz 360).
Im Hinblick auf das Fehlen genauer Feststellungen über die verbliebene Bewegungsfähigkeit der Klägerin, gegebenenfalls auch den (möglichen) Einfluss des Beatmungsgeräts, ist eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen notwendig.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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