European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00056.21I.0622.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die 1989 geborene Klägerin ist ungarische Staatsbürgerin und lebt seit Jänner 2018 bei ihrer Mutter, ebenfalls ungarische Staatsbürgerin, in Österreich. Die Klägerin leidet seit ihrer Kindheit an einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, begleitet von Autismus sowie Epilepsie. Sie ist seit jeher gänzlich berufsunfähig. Mit Volljährigkeit der Klägerin wurde ihre Mutter vom ungarischen Pflegschaftsamt zum gesetzlichen Vormund der Klägerin bestellt.
[2] In Ungarn bezog die Klägerin seit 1. 11. 2007 durchgehend eine Berufsunfähigkeitspension (Invalidenrente), sowie eine Behindertenunterstützung. Die Mutter der Klägerin teilte den ungarischen Pensionsbehörden mit Schreiben vom 24. 8. 2018 mit, dass die Klägerin nach Österreich verzogen sei. Die Überweisung der Berufsunfähigkeitsleistung wurde von der ungarischen Pensionsversicherungsanstalt mit 1. 9. 2018 „aufgrund des Antrags der Leistungsberechtigten vom 6. 9. 2018“ eingestellt. Begründet wurde dies damit, dass die Klägerin in einem Brief vom 6. 9. 2018 um die Einstellung der Invalidenrente gebeten habe, weil sie bereits in Österreich lebe und die dortige Versorgung beanspruchen möchte. Es steht jedoch nicht fest, ob ein derartiges Schreiben vom 6. 9. 2018 existiert. In Ungarn ist die Klägerin seit 1. 10. 2018 nicht mehr krankenversichert.
[3] Mit Bescheid vom 15. 11. 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung von Pflegegeld ab, weil die Klägerin in der Krankenversicherung den ungarischen Rechtsvorschriften unterliege. Der Verzicht auf eine mitgliedstaatliche Leistung bewirke keine Veränderung der Sachlage.
[4] Mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Pflegegeld in gesetzlicher Höhe ab 1. 2. 2019. Die Klägerin habe nie Pflegegeldleistungen aus Ungarn bezogen, von einem freiwilligen Verzicht könne keine Rede sein. Die Leistung der ungarischen Invaliditätsrente sei eingestellt worden, weil diese nach ungarischem Recht an einen Wohnsitz in Ungarn anknüpfe.
[5] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass Ungarn für die Gewährung von Leistungen bei Pflege nach der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO [EG] 883/2004) zuständig sei.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Ein Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld bestehe gemäß § 3a Abs 1 BPGG deshalb nicht, weil Österreich nach den Kollisionsnormen der VO (EG) 883/2004 zur Gewährung von Pflegegeld nicht zuständig sei. Die Klägerin gehe keiner Beschäftigung nach, sodass Österreich zwar als Wohnsitzstaat gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 zuständig wäre. Sie habe allerdings bis zur Zahlungseinstellung am 1. 9. 2018 eine ungarische Invaliditätsrente bezogen. Nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO (EG) 883/2004 sei für die Gewährung von Pflegegeld daher Ungarn als pensionsauszahlender Staat zuständig. Es könne dahingestellt bleiben, ob die Einstellung der Zahlung an die Klägerin Folge eines von ihr abgegebenen Verzichts oder ihres Wohnsitzwechsels nach Österreich sei.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.
[8] In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
Rechtliche Beurteilung
[9] 1. Übt der Pflegebedürftige im Wohnortstaat keine Beschäftigung aus und erhält er (nur) eine Rente (Pension) aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, dann bleibt für die Gewährung von Geldleistungen bei Krankheit, zu denen das Pflegegeld nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gehört, der pensionsauszahlende Staat – hier: Ungarn – nach den allein maßgeblichen Kollisionsregeln der VO (EG) 883/2004 zuständig (10 ObS 34/20b mzwH; 10 ObS 123/16k SSV‑NF 31/9; RS0131205; Greifeneder‑Liebhart , HB Pflegegeld 4 , Rz 3.46). Auf den Umstand, ob ein Staat tatsächlich Leistungen gewährt, kommt es, worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat, nicht an (10 ObS 83/16b SSV‑NF 30/80). Diese Rechtsprechung haben die Vorinstanzen beachtet. Eine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts zeigt die Revisionswerberin nicht auf:
[10] 2.1 Auf die Frage, ob die Klägerin einen Anspruch auf „ungarisches Pflegegeld“ habe, und ob dieser von einem Wohnsitz der Klägerin in Ungarn abhänge, kommt es für die Beurteilung der hier allein zu entscheidenden Frage, ob die Klägerin Anspruch auf österreichisches Pflegegeld hat, nicht an. Lediglich der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass Ungarn nur Sach‑, nicht aber auch Geldleistungen für die Betreuung pflegebedürftiger Personen gewährt (vgl die von der Verwaltungskommission beschlossene Liste gemäß Art 34 Abs 2 VO [EG] 883/2004, abgedruckt in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 34 VO [EG] 883/2004 Rn 18).
[11] 2.2 Die Klägerin macht geltend, sie habe nach ihrem Umzug nach Österreich keinen Anspruch mehr auf Auszahlung ihrer ungarischen Invaliditätsrente. Dies steht einerseits im Widerspruch zum Gebot des Exports von Geldleistungen gemäß Art 7 VO (EG) 883/2004, das insbesondere auch für Renten bei Invalidität (Art 1 lit w VO [EG] 883/2004) gilt (vgl nur Schuler in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 7 VO [EG] 883/2004 Rn 7). Andererseits ergibt sich daraus, dass auch die Klägerin davon ausgeht, grundsätzlich einen Anspruch auf eine ungarische Invaliditätsrente zu haben, der ihr lediglich aufgrund ihres Wohnsitzwechsels nach Österreich nicht ausgezahlt werde. Dass dieser Umstand nichts an der weiter bestehenden Zuständigkeit Ungarns zur Erbringung von Geldleistungen bei Krankheit ändern könnte, hat das Berufungsgericht zutreffend dargelegt.
[12] 2.3 Auf die noch im Verfahren erster Instanz aufgestellte Behauptung einer Mitversicherung der Klägerin in der Krankenversicherung ihrer Mutter kommt sie in der außerordentlichen Revision nicht mehr zurück.
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