OGH 10ObS48/21p

OGH10ObS48/21p19.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Krachler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch K‑B‑K Kleibel Kreibich Bukovc Hirsch Rechtsanwälte GmbH & Co. KG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1080 Wien, Josefstädter Straße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 16. Dezember 2020, GZ 12 Rs 86/20 h‑9, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 28. August 2020, GZ 18 Cgs 114/20b‑5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131905

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der 1961 geborene Kläger begann im Jahr 1985 seine Polizeiausbildung und war zuletzt als Polizeioffizier (Major) tätig.

[2] Im September 2015 war der Kläger am Hauptbahnhof ** im Einsatz, und zwar während folgender Dienste:

- 10. 9. 2015, 7.00 Uhr, bis 11. 9. 2015, 7.00 Uhr;

- 12. 9. 2015, 7.00 Uhr, bis 13. 9. 2015, 7.00 Uhr;

- 14. 9. 2015, 7.00 Uhr, bis 15. 9. 2015, 7.00 Uhr;

- 16. 9. 2015, 7.00 Uhr, bis 17. 9. 2015, 2.15 Uhr.

[3] Seine Aufgabe war, das anfängliche Chaos am Bahnhof infolge der damaligen Flüchtlingskrise zu bewältigen. Der Kläger hatte das Kommando über etwa 100 Personen im Einsatz.

[4] Als der erste Zug aus Wien eintraf, versuchte er, die Bahnsteige abzusperren. Gleichzeitig lief auch noch der normale Bahnverkehr. Nach dem ersten Zug waren auf einmal ca 2.000 oder 3.000 Leute am Bahnhof zugegen. Es war jedenfalls aus Sicht des Klägers eine Masse. Am Anfang war eine Verständigung unmöglich. Erst später gab es dann Dolmetscher. Die Verständigungen waren nur rudimentär auf Englisch oder in Zeichensprache möglich.

[5] Aus Sicht des Klägers nahm die Problematik dann immense Ausmaße an. Aus seiner Sicht reichten die Kapazitäten nicht mehr aus und wurde dann versucht, auch die Bahnhofstiefgarage dazuzubekommen. Aus Sicht des Klägers war vor Ort ein unheimlicher Lärm und ein Wirrwarr gegeben. Die Leute waren aus Sicht des Klägers monatelang auf der Flucht; es hat gestunken und es gab sanitäre Missstände. Eine derartige Intensität war nicht vorhergesagt. Der Kläger hörte aus dem Kriminalreferat, dass die Leute auch bewaffnet sein konnten. Aus seiner Sicht stand der Kläger einer Masse von Leuten gegenüber und war mit seinem Team mittendrinnen. Er konnte dann weder für sein eigenes Leben noch für das seiner Mitarbeiter die notwendige Sicherheit gewährleisten. Er war aber verantwortlich.

[6] In weiterer Folge entstand die Problematik, dass die Flüchtlinge untereinander vernetzt waren; Wenn es geheißen hat, dass wieder ein Zug nach Deutschland abfährt, stürmten die Leute dorthin. Hier war dann aus Sicht des Klägers nichts mehr aufzuhalten. Leute haben miteinander gerauft oder sind übereinander gestolpert. Die prägendste Situation aus Sicht des Klägers war, als er mit seinem Team am Bahnhof versuchte, eine Reihe von Leuten „herauszubringen“. Die anderen Leute wussten aber sofort, dass derjenige, der mitgenommen wird, nach Deutschland kommt. Eine Mutter und ein Kind wandten sich schreiend an den Kläger. Sie wurde am Rand eingeklemmt. Aus Sicht des Klägers waren die Leute wie Tiere. Der Kläger nahm wahr, dass das Kind direkt beim Absperrgitter eingeklemmt war, ebenso die Mutter. Er hätte dem Kind nicht helfen können. Der Kläger fühlte sich absolut hilflos.

[7] In persönlicher Hinsicht hatte der Kläger Angst und Panik und wollte dort einfach nur weg. Er hatte auch Versagensangst. Aus Sicht des Klägers waren diese Einsätze nicht mit seinen bisherigen Tätigkeiten vergleichbar. Er empfand sich bis dahin als ein sehr erfolgreicher Beamter mit einer sehr guten Aufklärungsquote. Aus seiner Sicht war es beklemmend, auch wenn die Situation von Mal zu Mal besser und geordneter wurde.

[8] Nach den Problematiken Ende 2015 arbeitete der Kläger normal weiter. Im Krankenstand war er nicht.

[9] Nach Meinung des Klägers veränderte er sich nach diesen Einsätzen. Im Jahr 2019 trennte er sich fast von seiner Frau. Damals ließ er sich krankschreiben. Am 6. 12. 2019 erfolgte eine Unfallmeldung an die Beklagte, die auszugsweise lautete wie folgt: „Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignete: Bewältigung der Flüchtlingsströme als polizeilicher Einsatzleiter am 10. September 2015 sowie weiters am 12. September, 14. September und 16. September 2015 ….“

[10] Der Kläger ist nunmehr in psychiatrischer Behandlung.

[11] Mit Bescheid vom 22. 6. 2020 lehnte die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau die Anerkennung des Vorfalls vom 10. 9. 2015 als Dienstunfall ebenso wie als Berufskrankheit ab. Auch die Zuerkennung von Leistungen wurde abgelehnt.

[12] Mit seiner dagegen gerichteten Klage begehrte der Kläger die Zuerkennung einer Vollrente als Dauerrente für die Folgen des Dienstunfalls vom 10./12./14./16. 9. 2015 ab 22. 11. 2019. Mit seinem ersten Eventualbegehren begehrte er die Zuerkennung einer vorläufigen Rente in Höhe der Vollrente für die Folgen dieses Dienstunfalls. Mit seinem zweiten Eventualbegehren begehrte er die Feststellung, dass die Gesundheitsstörung, die er am 10./12./14./16. 9. 2015 erlitten habe, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Angststörung, Folgen des Dienstunfalls seien.

[13] Nach den an diesen Tagen erlebten Vorfällen hätten sich beim Kläger Beschwerden eingestellt. Das durch die Vorfälle erlittene Trauma habe zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt, es sei auch eine Angststörung entstanden, die dazu geführt habe, dass der Kläger öffentliche Busse und öffentliche Plätze meide, weil er sich vor großen Menschenansammlungen fürchte. Ein Vorfall, bei dem eine Mutter und ihr Kind beim Ausgang aus der Tiefgarage durch die dahinter drängende Masse minutenlang an die Absperrgitter gedrückt worden seien und verzweifelt geschrien hätten, sei noch erinnerlich, als wäre es gestern gewesen. Durch pures Glück sei dabei niemand ums Leben gekommen. Seit November 2019 sei der Kläger dienstunfähig.

[14] Die Beklagte wandte ein, dass es sich bei einem Unfall um ein zeitlich begrenztes Ereignis handle. Ein solches liege hier nicht vor.

[15] Das Erstgericht wies das Haupt‑ und die Eventualbegehren des Klägers ab, weil der gesetzliche Unfallbegriff nicht erfüllt sei.

[16] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Auch psychische Beeinträchtigungen könnten Folgen eines Unfalls sein. Ein Unfall sei jedoch ein zeitlich begrenztes Ereignis. Zwar könne sich ein Unfall auch infolge kurz aufeinanderfolgender Einwirkungen ereignen, die in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht oder eines sich auf mehrere Tage erstreckenden Dienstauftrags ereignet haben. Äußerste zeitliche Grenze sei jedoch die Dauer einer Arbeitsschicht. Diese sei hier überschritten worden. Die Gesamtheit mehrerer, auf einen längeren Zeitraum verteilter Einwirkungen sei kein Unfall, außer eine einzelne Einwirkung hebe sich aus der Gesamtheit als wesentliche Teilursache des Erfolgs hervor. Eine solche wesentliche Teilursache ergebe sich hier allerdings weder aus den Behauptungen des Klägers noch aus den Verfahrensergebnissen, wonach erst alle vier Einsätze des Klägers zur behaupteten Gesundheitsstörung geführt hätten. Die Revision sei zulässig, weil eine Klarstellung zu den Grenzen des „zeitlich begrenzten Ereignisses“ im Sinn des Unfallversicherungsrechts durch den Obersten Gerichtshof geboten erscheine.

[17] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der beklagten Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau beantwortete Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung seines Klagebegehrens begehrt.

Rechtliche Beurteilung

[18] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[19] Der Revisionswerber macht geltend, dass von einem einheitlichen Dauereinsatz an einem Dienstort auszugehen sei. Daher seien die Einwirkungen, die zur posttraumatischen Belastungsstörung geführt hätten, als plötzlich anzusehen. Aus einem Vergleich zum sonstigen Dienst des Klägers ergebe sich, dass es beim besonderen Einsatz im Jahr 2015 zu mehreren Situationen gekommen sei, die als kurz aufeinander folgende Einwirkungen „in ihrer Gesamtheit“ zu den Gesundheitsstörungen des Klägers geführt hätten. Signifikant hervortretende Teilursache sei die „Szene“ mit Mutter und Kind am Absperrgitter gewesen.

[20] Dem steht Folgendes entgegen:

[21] 1.1 Als Dienstunfälle gelten nach der Generalklausel des § 90 Abs 1 B‑KUVG Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen.

[22] 1.2 Da die Voraussetzungen für eine Dienstunfallbeurteilung nach § 90 B‑KUVG (im Wesentlichen) gleich wie für die Beurteilung eines Arbeitsunfalls in der Unfallversicherung nach dem ASVG sind, können Lehre und Rechtsprechung zu den Bestimmungen des ASVG zur Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des B‑KUVG herangezogen werden (RIS‑Justiz RS0110598 [T2]).

[23] 2.1 Der Unfall unterscheidet sich von der (hier nicht mehr geltend gemachten) Berufskrankheit durch den Zeitraum, in dem er sich ereignet: Während sich die Berufskrankheit typischerweise während eines längeren Zeitraums entwickelt, mag sie auch mitunter plötzlich zu Gesundheitsstörungen führen, versteht man unter einem Unfall ein im Allgemeinen von außen auf Geist und/oder Körper einwirkendes, meist plötzlich eintretendes, zumindest aber zeitlich eng begrenztes Ereignis, durch das eine Gesundheitsschädigung oder der Tod bewirkt wird (RS0084348; RS0110320; R. Müller in SV‑Komm [263. Lfg] Vor §§ 174–177 ASVG Rz 8 mwH).

[24] 2.2 Für den Unfallbegriff nicht maßgeblich ist, ob die Körperschädigung durch eine physische oder eine psychische Wirkung (zB einen Nervenschock) hervorgerufen wird (RS0110320).

[25] 2.3 „Plötzlichkeit“ muss nicht Einmaligkeit heißen. Die Rechtsprechung hat die äußerste zeitliche Grenze bei der Dauer einer Arbeitsschicht gezogen (10 ObS 45/12h SSV‑NF 26/31 ua; R. Müller in SV‑Komm Vor §§ 174–177 ASVG Rz 8). Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, stellen keinen Arbeitsunfall dar, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten (10 ObS 96/11g SSV‑NF 25/84; 10 ObS 10/03y SSV‑NF 17/15; grundlegend 10 ObS 224/98h SSV‑NF 12/89). Die letzte körperliche oder seelische Belastung stellt dann nur das Endglied einer Kette von Ereignissen dar, die allmählich eingewirkt haben, ohne dass einem einzelnen dieser Ereignisse die Bedeutung eines Arbeitsunfalls beigemessen werden kann (RS0110322). Liegt das Ergebnis einer längeren krankheitsbedingten, möglicherweise auch berufsbedingten Entwicklung vor, kann nicht von einem Unfall gesprochen werden (RS0110323). So ist zB eine Anpassungsstörung als Folge mehrerer Ereignisse in ihrer Gesamtheit, die in einem mehrwöchigen Zeitraum eintraten, nicht als Folge eines Unfalls anzusehen (10 ObS 53/14p).

[26] 3.1 Im vorliegenden Fall macht der Kläger geltend, dass er infolge der Ereignisse während insgesamt vier (von Ruhezeiten unterbrochenen) Diensten eine Gesundheitsstörung erlitten habe. Die von der Rechtsprechung für die zeitliche Begrenzung eines Unfallereignisses herausgearbeitete Dauer einer Arbeitsschicht ist damit überschritten.

[27] 3.2 Erstmals in der Entscheidung 10 ObS 224/98h (SSV‑NF 12/89) hat der Oberste Gerichtshof in diesem Zusammenhang – unter Berufung auf deutsche Rechtsprechung – formuliert (Hervorhebung durch den Senat):

[28] „Auch kurz aufeinanderfolgende Einwirkungen, die nur in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, sind noch als plötzlich anzusehen, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht oder eines sich auch auf mehrere Tage erstreckenden Dienstauftrages ereignet haben.“

[29] 3.3 Völlig zutreffend hat das Berufungsgericht herausgearbeitet, dass ein Fall eines sich auf mehrere Tage erstreckenden Unfallereignisses von der Rechtsprechung bisher nicht zu beurteilen war. In der Entscheidung 10 ObS 224/98h (SSV‑NF 12/89) war der Entschluss zum Selbstmord nicht die Folge eines schweren psychischen Traumas, sondern das Ergebnis einer längeren krankheitsbedingten, allenfalls berufsbedingten Entwicklung. In 10 ObS 10/03y (SSV‑NF 17/15) stand ein Selbstmordversuch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer nicht bestandenen Wiederholungsprüfung. In 10 ObS 89/08y (SSV‑NF 22/46) waren Wirbelsäulen‑beschwerden auf ein anlagebedingtes Vorleiden zurückzuführen; zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung fehlte es an einer Gesundheitsstörung. In der Entscheidung 10 ObS 67/11t (SSV‑NF 25/81 = DRdA 2012/25, 349 [R. Müller]), war eine beim Kläger aufgetretene Hyperventilation, die bedrohlich wirkende Krampf‑ und Lähmungserscheinungen auslöste, Folge einer mehrstündigen, körperlich anstrengenden Wanderung in Verbindung mit einer Durchfallerkrankung (diese Entscheidung betraf einen Unfall im Sinn des § 131 Abs 4 ASVG). In 10 ObS 96/11g (SSV‑NF 25/84) führte ein bestimmter Vorfall als Schlüsselreiz zur Aktualisierung einer bereits zuvor bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 30 %. In der Entscheidung 10 ObS 45/12h, (SSV‑NF 26/31) war eine betriebliche Auseinandersetzung an einem bestimmten Tag nicht kausal für die beim Kläger bestehende leichtere, länger andauernde ängstlich‑depressive Störung.

[30] 4.1 Gemäß dem seit 1. 1. 1997 geltenden § 8 Abs 1 Satz 2 des deutschen SGB VII sind Unfälle „zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen“. Dieser Unfallbegriff übernahm den bereits zuvor von der deutschen Rechtsprechung verwendeten Unfallbegriff (Krasney in Krasney/Burkhardt/Kruschinsky/Becker, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) – Kommentar [37. Lfg] § 8 Rn 2), der auch dem in Österreich verwendeten Unfallbegriff entspricht.

[31] 4.2 Auch nach deutscher Rechtsprechung und Lehre dient die zeitliche Begrenzung der Abgrenzung des Unfalls von der Krankheit. Auch dort wird angenommen, dass die Arbeitsschicht die äußerste zeitliche Grenze bildet: Neben der Verletzung zB durch Gegenstände, Insektenstiche oder Bisse kommen etwa auch Infektionskrankheiten als Unfall in Betracht, wenn die Infektion durch Einwirkungen innerhalb einer Arbeitsschicht die Gesundheitsstörung hervorruft (vgl nur Krasney, SGB VII § 8 Rn 635 mzwH; Holstraeter in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht6 § 8 SGB VII Rn 2 mwH; Lauterbach, Unfallversicherung ‑ Sozialgesetzbuch VII4 [70. Lfg] § 8 SGB VII Rn 27; BSG 2 RU 17/84; B 2 U 1/98 R; B 2 U 2/11 R, Rn 24 mwH).

[32] 4.3 In einer älteren Entscheidung hatte das Bundessozialgericht den Fall eines Hüttenarbeiters zu beurteilen, der über die Jahre 1935 bis 1944 in einem Eisenhüttenwerk mit dem Bündeln von Eisen‑ und Drahtpacken als sogenannter Scherenmann beschäftigt war. Er hatte am kleinen Finger der rechten Hand eine Warze, an der er sich bei dieser Arbeit wiederholt verletzte. Im Herbst 1949 verstarb er an Krebs. Die Kläger – die Hinterbliebenen des Hüttenarbeiters – behaupteten, dass das tödliche Leiden durch wiederholte Verletzungen der Warze bei der Betriebsarbeit entstanden sei. Dazu führte das Bundessozialgericht in der Entscheidung 2 RU 57/64 aus:

„Der rechtlichen Betrachtungsweise des angefochtenen Urteils liegt ein Sachverhalt zugrunde, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Krebserkrankung L‘s nur durch Verletzungen an der Warze hervorgerufen worden sein kann, die sich in verschiedenen, mehr oder weniger eng aufeinanderfolgenden zahlreichen Arbeitsschichten ereignet und auf eine lange Zeit verteilt haben. Für das Bösartigwerden des Warzengewebes kommt als rechtlich wesentliche Ursache somit nicht eine einzelne Verletzung, sondern nur die Gesamtheit der im Laufe der Jahre eingetretenen Schädigungen am rechten Kleinfinger in Betracht. Einen solchen Geschehensablauf hat das [Landessozialgericht] zwar mit Recht nicht als einen Arbeitsunfall gewertet, da die Gesamtheit der auf einen längeren Zeitraum verteilten Gewalteinwirkungen nicht ein Unfallereignis im Sinne des [§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO] darstellt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass ein Schaden, der durch wiederholte, in mehreren Arbeitsschichten aufgetretene Gewalteinwirkungen hervorgerufen wird, gleichwohl als Folge eines Arbeitsunfalles anzusehen ist, wenn sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, dass sie nicht nur als die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Gewalteinwirkungen erscheint ….“

[33] Das Bundessozialgericht erachtete daher eine Ergänzung des Verfahrens als erforderlich, weil zu entscheiden sei, „ob eine der zahlreichen Schädigungen an der Warze ein Unfallereignis darstellt, das innerhalb einer Arbeitsschicht abgelaufen ist und daher die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache im Rechtssinne für die Entstehung des Krebsleidens hat.“ (die Folgeentscheidung im fortgesetzten Verfahren traf das Bundessozialgericht zu 2 RU 15/69).

[34] 4.4 Wenn daher bei über mehreren Arbeitsschichten auftretenden zB Gewalteinwirkungen sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, dass sie nicht nur die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Einwirkungen erscheint, so ist diese eine, eigenständige Gewalteinwirkung für die Schädigung von wesentlicher Bedeutung und damit ein Unfall im Sinn der Unfallversicherung (Krasney, SGB VII § 8 Rn 636 mwH; Ricke in Kasseler Kommentar [112. Lfg] SGB VII § 8 Rn 23; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 Rn 12 mwH; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9 10; Wietfeld in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Udsching, Beck‑OK SozR, 60. Edition SGB VII § 8 Rn 100).

[35] 4.5 Dem entspricht auch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs: Bereits in der Entscheidung 10 ObS 224/98h wurde ausgeführt, dass betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, keinen Arbeitsunfall darstellen, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausreichenden Zeit eintreten. Die letzte körperliche oder seelische Belastung am Todestag ist dann nur das Endglied einer Kette von alltäglichen Ereignissen, die allmählich eingewirkt haben, ohne dass einem einzelnen Ereignis davon die Bedeutung eines Arbeitsunfalls beigemessen werden könnte. Ein solches zeitlich begrenztes psychisches Ereignis – etwa ein psychisches Trauma – als dessen kausale Folge der Entschluss zum Selbstmord fällt, kann einen Unfall darstellen (10 ObS 10/03y SSV‑NF 17/15 ua, RS0110322).

[36] Klarzustellen ist, dass es nicht unbedingt das letzte von mehreren betrieblichen Ereignissen, die sich über mehr als eine (bestimmte) Arbeitsschicht erstrecken, sein muss, das für die Schädigung von wesentlicher Bedeutung ist.

[37] 4.6 Ergebnis:

[38] a) Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, sind kein Arbeitsunfall, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten.

[39] b) Bei Verteilung mehrerer physischer oder psychischer Ereignisse über einen über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeitraum ist „Plötzlichkeit“ – und damit ein Arbeitsunfall im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung – nur dann zu bejahen, wenn sich ein oder mehrere Ereignisse (Einwirkungen) innerhalb einer bestimmten Arbeitsschicht aus der Gesamtheit der Ereignisse (Einwirkungen) so herausheben, dass sie nicht bloß eine (insbesondere die letzte) unter mehreren gleichwertigen Ursachen der Schädigung sind, sondern für die Schädigung wesentliche Bedeutung haben, diese also alleine wesentlich bedingen.

[40] 5.1 Das Berufungsgericht hat diese Rechtslage im vorliegenden Fall zutreffend angewandt. Nach dem Vorbringen des Klägers seien die auf ihn eindringenden belastenden Ereignisse während seiner vier Einsätze in ihrer Gesamtheit verantwortlich für die bei ihm aufgetretene posttraumatische Belastungsstörung und die Angststörung gewesen. Erstrecken sich Vorgänge wie hier über mehrere Einsätze („Arbeitsschichten“), so fehlt es an der erforderlichen zeitlichen Begrenztheit für die Bejahung des unfallversicherungsrechtlichen Unfallbegriffs.

[41] 5.2 Der Kläger hat zwar vorgebracht, dass ihm die Bedrohung einer Mutter und ihres kleinen Kindes am Absperrgitter durch andere Flüchtlinge erinnerlich sei, „als wäre es gestern gewesen“. Aus der den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellung ergibt sich aber nicht, dass es sich dabei um ein Ereignis gehandelt hätte, dass alleine wesentlich die bei ihm bestehende Gesundheitsschädigung bedingt hätte. Die Behauptung des Revisionswerbers, dabei habe es sich um eine „aus der Gesamtheit der Einwirkungen signifikant hervorhebende wesentliche Teilursache seiner eingetretenen Gesundheitsstörung“ gehandelt, findet weder im Vorbringen des Klägers noch in den Feststellungen eine Grundlage,

[42] 5.3 Darauf, dass der Kläger das Vorliegen einer Berufskrankheit im Verfahren nicht mehr behauptet hat, hat das Berufungsgericht bereits hingewiesen.

[43] Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

[44] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

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