OGH 10ObS364/02f

OGH10ObS364/02f26.11.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann und Mag. Harald Kaszanits (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Lina-Maria T*****, vertreten durch Mag. Dr. Johannes Winkler, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, Ghegastraße 1, 1030 Wien, vertreten durch Dr. Christian Preschitz und Dr. Michael Stögerer, Rechtsanwälte in Wien, wegen vorzeitiger Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. April 2001, GZ 11 Rs 140/01i-9, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. März 2001, GZ 18 Cgs 304/00m-5, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR

333,06 = S 4.583,04 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin

EUR 55,51 = S 763,84 USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 12. 9. 1945 geborene Klägerin stellte am 3. 8. 2000 (und 23. 8. 2000) bei der beklagten Partei zum Stichtag 1. 10. 2000 den Antrag auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 22. 9. 2000 lehnte die beklagte Partei den "Antrag auf Erwerbsunfähigkeitspension" mangels Vorliegens von Erwerbsunfähigkeit zum Stichtag 1. 10. 2000 ab. Im Rahmen der Bescheidbegründung wurde der Klägerin mitgeteilt, ihrem Antrag auf vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit könne nicht entsprochen werden, weil diese Leistung ab dem Stichtag 1. 7. 2000 gemäß § 274 Abs 2 BSVG nicht mehr vorgesehen sei.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt die Klägerin, die vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit im gesetzlichen Ausmaß ab dem Tag, der auf die Betriebsaufgabe folgt. Die rückwirkende Abschaffung der beantragten Pensionsleistung sei verfassungswidrig. Außerdem sei die Klägerin gemäß § 255 Abs 21 BSVG, welcher unverändert in Geltung sei, von der Abschaffung der vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit nicht betroffen.

Die beklagte Partei beantragte Klageabweisung. Sie wendete ua ein, dass die Bestimmung des § 122c BSVG zum Stichtag 1.10.2000 nicht mehr in Geltung stehe. Dass die Klägerin hievon iSd § 255 Abs 21 ASVG nicht betroffen sei wurde bestritten.

Das Erstgericht sprach mit Urteil vom 14. 3. 2001 aus, der Anspruch der Klägerin auf vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit bestehe ab 1. 10. 2000 zu Recht, da die Klägerin die Wartezeit und auch die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 122c BSVG in der hier (gem § 255 Abs 21 BSVG idF der 23. Novelle, BGBl I 176/1999 Z 16) noch anzuwendenden Fassung vor dem 1. 7. 2000 bzw dem 1. 9. 1996 zum Stichtag 1. 10. 2000 erfülle. Die Pension falle aber mit diesem Tag für die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit weg, die das Entstehen eines Anspruches gemäß 122 Abs 1 Z 4 BSVG ausschließe. Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Berufungsgericht der Berufung der beklagten Partei nicht Folge.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die vorinstanzlichen Urteile im klagsabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Zulässigkeit des Rechtsweges für eine Bescheidklage setzt nach § 67 Abs 1 Z 1 ASGG (und § 69 ASGG) voraus, dass der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden hat. Liegt eine meritorische Entscheidung des Versicherungsträgers über den geltend gemachten Anspruch des Versicherten nicht vor, ist der Rechtsweg - von bestimmten Ausnahmen abgesehen - ausgeschlossen (SSV-NF 13/149).

Im vorliegenden Fall wurde mit dem der Klage zugrunde liegenden Bescheid seinem Spruch gemäß über die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitspension abgesprochen, die von der Klägerin (im Antrag vom 23. 8. 2000) nicht beantragt war; ihr Antrag auf Gewährung einer vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit wurde jedoch in einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitspension umgedeutet, wobei dem Bescheid zu entnehmen ist, dass die von der Klägerin eigentlich begehrte Leistung aufgrund einer zwischenzeitigen Gesetzesänderung nicht (mehr) zugesprochen werden könne. Anders als im Fall, der der Entscheidung SSV-NF 13/149, zugrunde lag, wird daher in das gerichtliche Verfahren nicht ein neuer Versicherungsfall einbezogen, der nicht Gegenstand des vor dem Versicherungsträger durchgeführten Verfahrens war. Für die von der Klägerin erhobene Klage auf Gewährung einer vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit ist daher der Rechtsweg zulässig (10 ObS 219/01f).

Die beklagte Partei wiederholt in ihren Revisionsausführungen den Standpunkt, aus der Gesetzgebungsgeschichte seit der 16. BSVG-Novelle ergebe sich eindeutig, dass sich § 255 Abs 21 BSVG immer nur auf die Wartezeitbestimmung des § 122c BSVG bezogen habe. Mit der Aufhebung des § 122c BSVG durch das SVÄG 2000 sei daher auch dem § 255 Abs 21 BSVG der Boden entzogen. Die erst nach wiederholten Anläufen endgültige Ausformung der Rechtslage in Reaktion auf das EuGH-Urteil in Sachen Buchner ua sei ein eindeutiger Beleg für die Tatsache, dass auf die ausdrückliche Aufhebung des § 255 Abs 21 BSVG schlichtweg vergessen worden sei. Dieser Aspekt werde auch unter Berücksichtigung der in der Regierungsvorlage der 24. Novelle zum BSVG in der Fassung des Ministerrates vom 22. 5. 2001 vorgesehenen Bestimmung des § 280 Abs 3 BSVG deutlich. Keinesfalls sei die Intention des Gesetzgebers dahin gegangen, dem in § 255 Abs 21 BSVG in Betracht kommenden Personenkreis die generell aufgehobene vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit auch weiterhin zu ermöglichen, zumal eine solche Sichtweise abermals die Möglichkeit eröffnet hätte, dass Frauen die Leistung ab dem 55. Lebensjahr in Anspruch nehmen könnten. Bei konsequenter Fortsetzung des der Berufungsentscheidung zugrundeliegenden Gedankens würde sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben, dass auch alle Männer, die am 1. 9. 1996 das 50. Lebensjahr vollendet haben, mit 55 und mit verkürzter Wartezeit in Pension gehen könnten. Damit unterstelle das Berufungsgericht dem Gesetzgeber die bewusste Inkaufnahme einer Rechtsfolge, die entweder im diametralen Widerspruch mit der belegten Intention des Gesetzgebers stehe, oder die Inkaufnahme einer wiederholten EU-Widrigkeit, sollte die Bestimmung dem Wortlaut zufolge auf weibliche Versicherte reduziert bleiben.

Der erkennende Senat hat bereits in den beiden Entscheidungen 10 ObS 219/01f und 10 ObS 220/01b vom 30. 7. 2001 die Ansicht vertreten, dass § 255 Abs 21 BSVG ungeachtet des SVÄG 2000 mit folgendem klaren Wortlaut in Kraft geblieben ist: "Für weibliche Versicherte, die am 1. September 1996 das 50. Lebensjahr bereits vollendet haben, ist § 122c iVm §111 in der am 31. August 1996 geltenden Fassung weiterhin anzuwenden." Daraus kann in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen durchaus der Schluss gezogen werden, dass der Personengruppe, der auch die Klägerin angehört, weiterhin der § 122c BSVG zugute kommen soll. Auch wenn die in § 7 ABGB ausdrücklich angeordnete Analogie beweist, dass selbst der eindeutige Gesetzeswortlaut keine unübersteigliche Grenze juristischer Argumentation darstellt, ist es nicht Aufgabe der Gerichte, durch zu weitherzige Interpretation rechtspolitische Aspekte zu berücksichtigen, die den Gesetzgeber bisher (bewusst oder unbewusst) nicht veranlasst haben, Gesetzesänderungen vorzunehmen; (allenfalls) unbefriedigende Gesetzesbestimmungen zu ändern oder zu entfernen, ist nicht Sache der Rechtsprechung, sondern der Gesetzgebung. Die Bestimmung des § 255 Abs 21 BSVG bildet somit nach Ansicht des erkennenden Senates auch nach der Aufhebung des § 122c BSVG durch § 274 Abs 2 BSVG idF SVÄG 2000 eine taugliche Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit.

Allerdings hatte sich nach Erlassung der angefochtenen Entscheidung des Berufungsgerichts am 9. 10. 2001 die Rechtslage geändert. Nach § 280 Abs 2 Z 1 BSVG idF der 24. BSVG-Nov, BGBl I Nr101/2001, trat nämlich § 255 Abs 21 BSVG rückwirkend mit Ablauf des 30. Juni 2000 außer Kraft. Die 24. BSVG-Novelle wurde am 7. 8. 2001 im Bundesgesetzblatt kundgemacht und war somit seither Bestandteil der Rechtsordnung. Nach der ständigen Rechtsprechung hat das Rechtsmittelgericht auf eine Änderung der Rechtslage Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das umstrittene Rechtsverhältnis anzuwenden sind (Kodek in Rechberger2 Rz 11 zu § 482 ZPO mwN uva; RIS-Justiz RS0031419). Insbesondere sind Änderungen des zwingenden Rechts, sofern nicht Übergangsrecht etwas anderes bestimmt, vom Rechtsmittelgericht ohne weiteres von Amts wegen seiner Entscheidung zugrundezulegen, auch wenn der zu beurteilende Sachverhalt bereits vor In-Kraft-Treten des neuen Rechts verwirklicht wurde (SZ 71/89; SZ 69/238 ua; RIS-Justiz RS0106868). Die durch die 24. BSVG-Nov rückwirkend mit 1. 7. 2000 bewirkte zwingende Rechtsänderung war daher auch vom Obersten Gerichtshof zu berücksichtigen, der die Entscheidung des Berufungsgerichtes nach der geänderten Gesetzeslage zu überprüfen hatte (vgl 10 ObS 107/94; 10 ObS 201/94; 10 ObS 333/91 ua).

Da der Oberste Gerichtshof jedoch Bedenken gegen die Verfassungskonformität der somit im vorliegenden Fall anzuwendenden Bestimmung des § 280 Abs 2 Z 1 BSVG idF 24. BSVG-Nov vor allem wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art 7 Abs 1 B-VG hegte, wurde mit Beschluss vom 16. 4. 2002, 10 ObS 226/01k, ein entsprechender Gesetzesprüfungsantrag an den Verfassungsgerichtshof gestellt.

In dem Erkenntnis vom 10. Oktober 2002, G 42/02 ua, hat der Verfassungsgerichtshof ua auch klargestellt, das für die Verfassungsgemäßheit der Rückwirkung des § 255 Abs 21 BSVG auch nicht etwa der Gesichtspunkt der Bereinigung eines bloßen Redaktionsversehens spreche, wobei er dazu folgendes ausführt:

"Vom Vorliegen eines solchen Redaktionsversehens bei Erlassung des SVÄG 2000 kann nach dem erklärten Zweck der Norm (nämlich der bewussten Aufrechterhaltung einer günstigeren früheren Rechtslage für einen bestimmten Personenkreis aus Vertrauensschutzgründen) auch unter Berücksichtigung der Absicht des Gesetzgebers des SVÄG 2000 nicht ausgegangen werden, sodass sich aus dieser Vorgeschichte kein Argument für einen erweiterten gesetzgeberischen Spielraum in der Rückwirkungsfrage gewinnen lässt."

Auch wenn die Auffassung der Revisionswerberin, dass sich § 255 Abs 21 BSVG nach den gesetzgeberischen Intentionen nur auf die Erfüllung der Wartezeit nach § 122c iVm § 111 BSVG bezogen habe und bei der Verabschiedung des SVÄG 2000 auf die ausdrückliche Aufhebung des § 255 Abs 21 BSVG vergessen worden sei, aus ihrer Sicht nicht unplausibel erscheint, vermag dies daher die detaillierten - nunmehr auch durch das zitierte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes gestützten - Ausführungen des Berufungsgerichtes nicht zu entkräften, wonach keineswegs mit Sicherheit ein Redaktionsversehen angenommen werden kann. Tatsache ist vielmehr, dass § 255 Abs 21 BSVG ungeachtet des SVÄG 2000 mit folgendem klaren Wortlaut weiterhin in Kraft ist:

"Für weibliche Versicherte, die am 1. September 1996 das 50. Lebensjahr bereits vollendet haben, ist § 122c iVm § 111 in der am 31. August 1996 geltenden Fassung weiterhin anzuwenden."

Mit dem auch andere Aufhebungsanträge erledigenden Erkenntnis vom 10. Oktober 2002, G 42/02 ua, sprach der Verfassungsgerichtshof nämlich aus, dass die Wortfolge "rückwirkend mit Ablauf des 30. Juni 2000" in § 280 Abs 2 Z 1 BSVG idF der 24. BSVG-Novelle, BGBl I Nr 101/2001, als verfassungswidrig aufgehoben wird und die aufgehobene Bestimmung unter anderem auch im gegenständlichen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist. Der Verfassungsgerichtshof erkannte in seiner Begründung die gegen die Rückwirkung der Aufhebung vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken für berechtigt.

Auf Grund dieses Erkenntnisses steht fest, dass für die Klägerin zu dem im vorliegenden Verfahren maßgebenden Stichtag 1. 10. 2000 die Bestimmung des § 255 Abs 21 BSVG noch in Geltung stand und damit eine taugliche Rechtsgrundlage für den von ihr geltend gemachten Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit bildet. Daraus muss in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen der Schluss gezogen werden, dass der Personengruppe, der auch die Klägerin angehört, weiterhin der § 122c BSVG zugutekommen soll, weshalb der Revision ein Erfolg zu versagen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a, Abs 2 ASGG.

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