OGH 10ObS350/91

OGH10ObS350/9111.2.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Franz Köck (AG) und Mag.Karl Dirschmied (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopoldine W*****, vertreten durch Dr.Helga Andrysek ua, Arbeitnehmer der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Niederösterreich, 1060 Wien, Windmühlgasse 28, diese vertreten durch Dr.Heinrich Keller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. August 1991, GZ 34 Rs 71/91-31, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 20.November 1990, GZ 16 Cgs 162/89-27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, der Klägerin "ab Anfallstag" die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen, ab. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Die (am 22.10.1938 geborene) Klägerin begann am 1.9.1953 ein für die Dauer von vier Jahren bestimmtes Lehrverhältnis zur Erlernung des Berufes eines Herren- und Damenkleidermachers. Das Lehrverhältnis wurde am 14.4.1956 vorzeitig beendet. Die Klägerin war in der Folge als "Näherin" in einer Krankenanstalt beschäftigt. Während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1.5.1989) übte sie überwiegend eine Tätigkeit aus, die wesentlichen Teiltätigkeiten des Lehrberufes eines Wäschewarenerzeugers entsprach. Die hiefür notwendigen Kenntnisse hatte sie sich durch die fast drei Jahre dauernde Lehrlingsausbildung und die daran anschließende praktische Tätigkeit erworben.

Bei der Klägerin tritt immer wieder ein vertikales intermittierendes Doppelbildsehen auf, das durch eine Prismenbrille kompensiert werden könnte. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß die hiedurch bewirkte Korrektur des Doppelbildsehens von der Klägerin nicht vertragen wird. Jedenfalls kann es aber durch eine Schieloperation korrigiert werden. Es handelt sich dabei um eine an Augenkliniken alltäglich ausgeführte Operation, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führt. Sie wird unter örtlicher Betäubung vorgenommen und ist mit keinen Risken verbunden, die über jene hinausgehen, die auch sonst bei Eingriffen unter Lokalanästhesie auftreten. Es kann ausgeschlossen werden, daß sich der Zustand der Klägerin durch den operativen Eingriff verschlechtert. Ihre Arbeitsfähigkeit wäre nach etwa vier Wochen wieder hergestellt.

Wenn das intermittierende vertikale Doppelbildsehen ausgeschaltet wird, kann die Klägerin jene Tätigkeit, die sie während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübt hat, weiterhin ausüben. Unter derselben Voraussetzung könnte sie auch die Tätigkeit einer Ausfertigungs- bzw Änderungsschneiderin, Büglerin oder Kontrollorin oder Abfüll- und Verpackungsarbeiten und Arbeiten an Maschinen oder Halbautomaten verrichten.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß der Klägerin sowohl das Tragen einer Prismenbrille als auch die Schieloperation zuzumuten sei. Da sie dann die von ihr während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübte Berufstätigkeit weiterhin ausüben könne, sei sie nicht invalid.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes zur Frage, ob der Klägerin das Tragen einer Prismenbrille zugemutet werden kann, nicht, weil ihr Leistungskalkül jedenfalls durch eine Schieloperation verbessert werden könne. Diese Operation übersteige nicht die Grenze des unter dem Gesichtspunkt der Duldungs- und Mitwirkungspflichten Zumutbaren. Der Klägerin gebühre die Invaliditätspension daher nicht, und zwar entgegen der von ihr vertretenen Meinung auch nicht bis zu jenem Tag, an dem sie erstmals von der Möglichkeit erfahren habe, ihre Arbeitsfähigkeit durch die Schieloperation wiederherzustellen. Es komme nämlich nur auf die objektiven Verhältnisse an. Subjektive Komponenten, wie das Wissen des Versicherten, seien nicht zu berücksichtigen.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn des Klagebegehrens abzuändern oder sie aufzuheben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist teilweise berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung JBl 1990, 734 =

RdW 1990, 385 = SSV-NF 4/23 ausführlich die Kriterien dargelegt,

nach denen zu beurteilen ist, ob ein operativer Eingriff zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zumutbar ist. Er hat hiezu unter anderem ausgeführt, daß dies nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls entschieden werden könne, wobei insbesondere auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten der Operation, die Schwere des Eingriffs und seine Folgen unter Berücksichtigung auch einer erforderlichen Nachbehandlung sowie die damit verbundenen Schmerzen Bedacht zu nehmen sei. Die Grenzen der Zumutbarkeit einer Krankenbehandlung würden in den Fällen überschritten, in denen für den deutschen Rechtsbereich § 65 SGB eine Ausnahme von der dort durch andere Bestimmungen allgemein angeordneten Untersuchungs- und Behandlungspflicht statuiere.

Ist aber von den angeführten Kriterien auszugehen, so vermag sich auch der erkennende Senat der Meinung der Klägerin nicht anzuschließen, daß ihr die Schieloperation nicht zugemutet werden dürfe. Es handelt sich dabei nur um einen geringfügigen Eingriff, der unter lokaler Betäubung durchgeführt wird und mit keinem ins Gewicht fallenden Risiko verbunden ist. Auch die Klägerin vermag in ihrer Revision keine Umstände anzuführen, die gegen die Zumutbarkeit der Operation sprechen; ihre Ausführungen erschöpfen sich in der - jedoch nicht konkret begründeten - Behauptung, daß die Vorinstanzen die Zumutbarkeit der Operation zu Unrecht bejaht hätten. Deren Rechtsansicht, daß die Klägerin nicht invalid ist, wenn sie sich der Schieloperation mit Erfolg unterzieht, wird in der Revision nicht bekämpft, weshalb der Oberste Gerichtshof sich nicht veranlaßt sieht, hierauf weiter einzugehen.

Zutreffend wendet sich die Klägerin aber gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß es unerheblich sei, ab wann sie von der Möglichkeit Kenntnis hatte, ihr Augenleiden durch eine Operation zu beheben. Wie der Oberste Gerichtshof in der schon zitierten Entscheidung JBl 1990, 734 = RdW 1990, 385 = SSV-NF 4/23 ausgeführt hat, ist die für den Bereich des Sozialversicherungsrechtes bestehende Duldungs- und Mitwirkungspflicht aus den Bestimmungen über die Schadensminderungspflicht im bürgerlichen Recht abzuleiten. Ebenso wie aber nur eine schuldhafte Verletzung der Schadensminderungspflicht zum Verlust oder zur Kürzung des Anspruchs auf Schadenersatz führt (vgl Reischauer in Rummel, ABGB Rz 38 zu § 1304 mN aus der Rechtsprechung), ist auch im Bereich des Sozialversicherungsrechtes nur eine schuldhafte, also eine zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Duldungs- oder Mitwirkungspflicht für das Bestehen eines Anspruchs von Bedeutung. Ein Anspruch geht daher entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes nicht schon dann verloren, wenn an dem hiefür maßgebenden Stichtag die Pflicht zur Duldung oder Mitwirkung objektiv schon bestanden hat. Der Verlust des Anspruchs setzt vielmehr voraus, daß dem Versicherten die Verletzung der Pflicht zur Duldung oder Mitwirkung als Verschulden zuzurechnen ist.

Ein Verschulden liegt aber nur und erst dann vor, wenn der Versicherte bei Anwendung der bei gewöhnlichen Fähigkeiten zu erwartenden Aufmerksamkeit (§ 1297 ABGB) erkennen mußte, zur Duldung oder Mitwirkung verpflichtet zu sein. Besteht die Mitwirkung darin, daß er sich einer Operation unterzieht, so ist es in der Regel geboten, ihm ab dem Zeitpunkt, zu dem er erstmals die Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit der Operation ernstlich in Betracht ziehen mußte, eine Frist zur Überlegung und Vorbereitung einzuräumen; er muß vor allem auch Gelegenheit haben, sich mit einem Arzt seines Vertrauens zu beraten. Diese Frist wird im allgemeinen mit vier Wochen zu bemessen sein. Erst nach Ablauf dieser Frist kann es dem Versicherten als Verschulden angelastet werden, daß er sich einer zweckmäßigen und zumutbaren Operation nicht unterzieht.

Ist der Versicherte bloß wegen der durch die Operation behebbaren Beeinträchtigung seines körperlichen oder geistigen Zustandes invalid, so ist seine Invalidität nur vorübergehend, weil sie durch die Operation beendet werden kann. Der Oberste Gerichtshof hat schon ausgesprochen (SSV-NF 5/42; vgl auch SSV-NF 5/17 und 5/29), daß die Invaliditätspension in einem solchen Fall (nach Maßgabe des § 254 Abs 1 Z 2 ASVG) gemäß § 256 ASVG bis zu jenem Zeitpunkt zuzuerkennen ist, für den mit Sicherheit oder mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der Invalidität vorhergesagt werden kann. Hängt das Ende der Invalidität (oder Berufsunfähigkeit) von einer Duldung oder Mitwirkung des Versicherten ab, zu der er verpflichtet ist, so ist nach dem Gesagten erst die schuldhafte Verletzung der Pflicht für das Ende seines Anspruchs auf Invaliditätspension maßgebend. Die Leistung ist daher für jenen Zeitraum zuzuerkennen, in dem die Invalidität (Berufsunfähigkeit) bestanden hätte, wenn er seiner Duldungs- oder Mitwirkungspflicht ordnungsgemäß nachgekommen wäre.

Hier ist auf Grund der Verfahrensergebnisse davon auszugehen, daß die Klägerin erstmals in der Tagsatzung vom 20.11.1990 die Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit der Schieloperation ernstlich in Betracht ziehen mußte. Der Sachverständige hat zwar schon in seinem schriftlichen Gutachten auf die Möglichkeit einer solchen Operation hingewiesen, die näheren Einzelheiten, insbesondere die Ungefährlichkeit und Erfolgswahrscheinlichkeit, ergaben sich aber erst aus der mündlichen Ergänzung des Gutachtens, die er in der Tagsatzung vom 20.11.1990 vornahm und bei der die Klägerin anwesend war. Durch das schriftliche Gutachten wurde die Überlegungs- und Vorbereitungsfrist daher auf keinen Fall in Gang gesetzt, weshalb unerörtert bleiben kann, welche Bedeutung es hat, daß dieses Gutachten bloß ihrem Prozeßvertreter zugestellt wurde. Da sich aus den vorliegenden Verfahrensergebnissen kein Anhaltspunkt in dieser Richtung ergibt, muß auch nicht dazu Stellung genommen werden, welche Bedeutung es gehabt hätte, wenn die beklagte Partei oder ein von ihr beauftragter Arzt die Klägerin schon früher auf die Zweckmäßigkeit einer Schieloperation aufmerksam gemacht hätte.

Im Hinblick auf die der Klägerin nach der Tagsatzung vom 20.11.1990 noch zur Verfügung stehende Überlegungs- und Vorbereitungsfrist von vier Wochen, ist es ihr ab 19.12.1990 als Verschulden zuzurechnen, daß sie sich der Schieloperation nicht unterzog. Entscheidend ist also, wann ihre Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt gewesen wäre, wenn sie spätestens am 19.12.1990 versucht hätte, in die allgemeine Gebührenklasse einer für sie mit Rücksicht auf ihren Wohnort in Betracht kommenden öffentlichen Krankenanstalt aufgenommen zu werden. Zu dem Zeitraum, der bis zur Aufnahme in die Krankenanstalt vergangen wäre, wären dann noch etwa vier Wochen hinzuzurechnen, weil nach den Feststellungen des Erstgerichtes von der Operation bis zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit noch diese Zeit verstrichen wäre. Bis zu dem sich auf diese Weise ergebenden Tag hätte die Klägerin Anspruch auf Invaliditätspension, wenn man von den bisher vorliegenden Verfahrensergebnissen ausgeht, wonach sie keine Berufstätigkeit mehr verrichten kann, solange ihr Augenleiden besteht; auf die Frage, ob ihr Berufsschutz nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG zukommt, muß daher derzeit nicht eingegangen werden.

Da der Versicherte bei vorübergehender Invalidität gemäß § 254 Abs 1 Z 2 ASVG erst ab der 27. Woche ihres Bestandes Anspruch auf Invaliditätspension hat (vgl auch § 223 Abs 1 Z 2 lit b ASVG), kommt es aber noch darauf an, ab wann die Invalidität der Klägerin bestand, wobei in erster Linie zu klären ist, ob sie zumindest 26 Wochen vor dem Stichtag schon gegeben war, weil der Klägerin die Invaliditätspension dann ab dem Stichtag zu gewähren wäre. Das Erstgericht hat zwar festgestellt, daß der in seinem Urteil beschriebene körperliche und geistige Zustand der Klägerin "seit Antragstellung" besteht, es hat damit aber ganz offensichtlich keine Aussage zur Frage treffen wollen, ob das Leistungskalkül der Klägerin auch schon vorher eingeschränkt war. Hiezu sind daher nach Maßgabe der folgenden Ausführungen noch Feststellungen notwendig.

Aus dem Gesagten folgt aber auch, daß es von Bedeutung ist, ob der Klägerin das Tragen einer Prismenbrille zugemutet werden kann, weil sie dann ihre Mitwirkungspflicht möglicherweise schon früher hätte erkennen müssen und daher schon früher schuldhaft verletzt hätte und sich überdies der Zeitraum, für den ihr allenfalls die Invaliditätspension zusteht, voraussichtlich verkürzen würde. Es wäre ihr nämlich eine Überlegungsfrist nicht zuzubilligen und für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit wäre jene Zeit zu veranschlagen, die sie für den Erwerb der Brille und für die Gewöhnung daran benötigt, nachdem sie erkennen mußte, daß sie zum Tragen der Brille verpflichtet ist. Das Berufungsgericht wird sich daher in erster Linie mit den Ausführungen auseinandersetzen müssen, die in der Berufung zum Tragen der Prismenbrille enthalten sind. Sollte es zu dem Ergebnis kommen, daß der Klägerin das Tragen einer Prismenbrille zugemutet werden kann, so werden Feststellungen zur Frage zu treffen sein, ab wann die Klägerin erkennen mußte, daß ihr Augenleiden hiedurch ausgeglichen wird. Liegt dieser Tag nach dem Stichtag, wird auch zu klären sein, seit wann sie invalid war und wie lange sie für den Erwerb der Brille und die Gewöhnung daran benötigt hätte. Sollte sich hingegen ergeben, daß der Klägerin das Tragen der Prismenbrille nicht zugemutet werden kann, so bedarf es der bereits aufgezeigten Feststellungen zum Beginn ihrer Invalidität und zu dem Zeitraum, den sie benötigt hätte, um nach Ablauf der Überlegungs- und Vorbereitungsfrist in die allgemeine Gebührenklasse einer für sie in Betracht kommenden öffentlichen Krankenanstalt aufgenommen zu werden.

Das Urteil des Berufungsgerichtes war daher aufzuheben, weil das Verfahren und die Entscheidung in der dargestellten Richtung ergänzt werden müssen (vgl § 2 Abs 1 ASGG iVm § 496 Abs 3 ZPO).

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.

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