OGH 10ObS332/91

OGH10ObS332/9126.11.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dkfm. Dr. Franz Schulz (Arbeitgeber) und Dr. Gerhard Dengscherz (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Monika N*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr. Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Weitergewährung der Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Juli 1991, GZ 33 Rs 73/91-45, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 29. November 1990, GZ 23 Cgs 45/89-40, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit S 3.623,04 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 603,84 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 14.5.1985 anerkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Anspruch der Klägerin auf Invaliditätspension wegen vorübergehender Invalidität für den Zeitraum vom 1.10.1984 bis 31.3.1986. Die Klägerin war damals nach einer Operation an der Wirbelsäule arbeitsunfähig. Da sie ein Gipsmieder tragen mußte, wurde ihr auch der Hilflosenzuschuß gewährt.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 27.6.1986 wurde der Klägerin die gemäß § 256 ASVG bis 31.3.1986 befristet zuerkannte Invaliditätspension für die weitere Dauer ihrer Invalidität weitergewährt. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Klägerin leichte Arbeiten in allen Körperhaltungen in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Ruhepausen verrichten und den Arbeitsplatz erreichen, jedoch keinerlei Arbeiten in gebückter Haltung leisten. Ebensowenig war das Heben und Tragen von Gegenständen über 10 kg oder Arbeiten an erhöht exponierten Stellen möglich. Es bestand noch eine massive Einschränkung der Beweglichkeit der Wirbelsäule, die zum Ausschluß der Arbeiten im Bücken führte.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 17.2.1989 entzog die beklagte Partei die der Klägerin zuerkannte Invaliditätspension mit Ablauf des Monates März 1989. In der Begründung dieses Bescheides wurde ausgeführt, daß die Klägerin nach dem Ergebnis der neuerlich vorgenommenen ärztlichen Begutachtung nicht mehr invalid im Sinne des § 255 ASVG sei. Zum Zeitpunkt der nunmehrigen Entziehung kann die Klägerin leichte Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Arbeitspausen leisten. Sie kann keine Tätigkeiten verrichten, für die häufige oder rasche Kopfbewegungen sowie Arbeiten im gehäuften Bücken - mehr als fünfmal pro Stunde - erforderlich sind. Als Dauerbelastung ist gewichtsmäßig nur eine solche bis 5 kg zumutbar, was auch dem Leistungskalkül zum Zeitpunkt der Weitergewährung entspricht. Der Gesundheitszustand der Klägerin hat sich gegenüber dem Zeitpunkt der Erstgewährung und auch dem der Weitergewährung wesentlich gebessert. Gegenüber dem Zeitpunkt der Erstgewährung besteht die wesentliche Besserung darin, daß die Klägerin nunmehr nicht arbeitsunfähig ist. Gegenüber dem Zeitpunkt der Weitergewährung liegt eine erhöhte Beweglichkeit der Wirbelsäule vor. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kann die Klägerin beispielsweise die Tätigkeiten einer Montiererin in der Metall- und Kunststoffbranche sowie Hilfstätigkeiten in der Lederwarenbranche verrichten.

Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der mit Bescheid vom 17.2.1989 entzogenen Invaliditätspension über den März 1989 hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Es vertrat die Rechtsansicht, daß gegenüber dem Zeitpunkt der Erstgewährung eine wesentliche Besserung des Leistungszustandes eingetreten sei, weil die Klägerin damals arbeitsunfähig gewesen sei. Auch gegenüber dem Zeitpunkt der Weitergewährung sei eine Besserung festzustellen, weil gerichtsbekannt sei, daß ein wesentlicher Unterschied darin bestehe, ob sich jemand noch bücken könne oder nicht. Die Klägerin könne daher noch verschiedene Tätigkeiten verrichten, weshalb Invalidität nach § 255 Abs. 3 ASVG nicht vorliege.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das Urteil im klagsstattgebenden Sinne ab. Es komme nicht allein darauf an, ob eine bloße Kalkülsänderung eingetreten sei, sondern darauf, ob sich die für den Bezug der Leistung relevanten Verhältnisse geändert hätten. Eine solche Änderung liege dann nicht vor, wenn das Leistungskalkül im Zeitpunkt der Weitergewährung die Verrichtung von Verweisungstätigkeiten nicht ausgeschlossen habe, weil dann bereits zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistung nicht erfüllt gewesen seien. Berücksichtige man, daß die Klägerin bereits zum Zeitpunkt der Weitergewährung leichte Arbeiten im Sitzen verrichten konnte, wobei diese Tätigkeiten in Greif- und unmittelbarer Sichtweite zu verrichten waren, so sei dabei ein Bücken nicht erforderlich gewesen, weil die Arbeiten im Sitezn verrichtet werden konnten. Die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung hätten daher schon im Zeitpunkt der Weitergewährung nicht vorgelegen, so daß die Entziehung bei im wesentlichen unveränderten Verhältnissen nicht gerechtfertigt gewesen sei.

Gegen diese Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache mit dem Antrag, das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen.

Die Klägerin beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt in Übereinstimmung mit der Lehre ausgesprochen hat, setzt der Leistungsentzug nach § 99 Abs. 1 ASVG eine wesentliche entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus, wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist auch ein Leistungsentzug sachlich gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungzuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen. An dieser Änderung fehlt es aber regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen nie vorhanden waren. hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (vgl. Schrammel, ZAS 1990, 73/79 f und in Tomandl, SV-System 3. Erglfg. 181 f; SSV-NF 1/27, 1/43, 2/43, 4/149 ua). Der Oberste Gerichtshof hat auch ausgeführt, daß die Frage, ob eine anspruchsvernichtende, also wesentliche (entscheidende) Änderung der Umstände eingetreten ist, durch Vergleich der zur Zeit der Gewährung - nicht etwa der Weitergewährung - der Leistung gegebenen mit den nunmehrigen Verhältnissen festzustellen ist (SSV-NF 1/44, 4/149).

Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, daß die sogenannte "Erstgewährung" der Invaliditätspension eine solche wegen vorübergehender Invalidität war. Gemäß § 256 ASVG kann bei vorübergehender Invalidität die Invaliditätspension für eine bestimmte Frist zuerkannt werden. Besteht nach Ablauf dieser Frist Invalidität weiter und wurde die Weitergewährung der Pension spätestens innerhalb eines Monates nach deren Wegfall beantragt, so ist die Pension für die weitere Dauer der Invalidität zuzuerkennen. Wird eine zeitlich begrenzte Invaliditätspension zuerkannt, fällt sie nach Ablauf der Frist weg, ohne daß es eines weiteren behördlichen Aktes bedarf. Die Zuerkennung der zeitlich begrenzten Invaliditätspension wirkt daher zumindest für die Frage der Invalidität nicht über die Frist hinaus, weil gerade die Tatsache, daß es sich um eine bloß vorübergehende Invalidität handelt, der Grund und die Voraussetzung für die zeitliche Begrenzung der Pension war. Dem steht nicht entgegen, daß das in § 256 ASVG verwendete Wort "Weitergewährung" auf einen gewissen Zusammenhang mit der zuerkannten Invaliditätspension hindeutet, weil eine andere Auslegung mit dem Zweck der Zuerkennung einer zeitlich begrenzten Invaliditätspension nicht vereinbar wäre. Der Anspruch auf Weitergewährung der Invaliditätspension hängt daher davon ab, ob der Versicherte nach Ablauf der Frist, für die sie zuerkannt wurde, (noch, erstmals oder wieder) als invalid im Sinn des § 255 ASVG gilt. Wie der Oberste Gerichtshof mehrfach ausgesprochen hat, ist hier ein Vergleich mit den Verhältnissen zur Zeit der Zuerkennung der Invaliditätspension, wie er bei der Entziehung einer Leistung notwendig ist, nicht anzustellen (SSV-NF 2/77, 2/119 ua; ebenso Teschner in MGA ASVG

49. Erglfg. 1321 Anm. 3 zu § 256 unter Hinweis auf ältere Entscheidungen des OLG Wien).

Daraus folgt, daß der Bescheid der beklagten Partei vom 27.6.1986 über die "Weitergewährung" der befristet zuerkannten Invaliditätspension, der ohne Vergleich mit den Verhältnissen im Zeitpunkt der Zuerkennung der befristeten Leistung zu ergehen hatte, Ausgangspunkt der Beurteilung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse sein muß. Die vom Berufungsgericht in Anschluß an die mehrfach zitierte Entscheidung SSV-NF 4/149 angestellten Überlegungen betreffen nur den Fall einer Weitergewährung nach vorheriger Entziehung einer unbefristet gewährten Pension. Ein weiteres Eingehen darauf erübrigt sich daher. Auch die vom Erstgericht zitierte Entscheidung 10 Ob S 123/90 nahm bei Wiedergabe der an sich zutreffenden Rechtssätze nicht ausdrücklich darauf Bezug, daß es sich dort nicht um die Weitergewährung einer entzogenen Leistung, sondern um die Weitergewährung einer befristet zuerkannten Pension handelte.

Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, daß die Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension bei Erlassung des Bescheides vom 27.6.1986 von vornherein gefehlt haben. Es genügt nicht, daß die Voraussetzungen für die Leistung zur Zeit der Entziehung nicht mehr gegeben sind, sondern es muß dies auf eine Änderung der Verhältnisse zurückzuführen sein; waren also die Voraussetzungen zur Zeit der Zuerkennung der Leistung nicht gegeben, so kann sie später nicht entzogen werden. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Tatsachen der Zuekennung zugrundegelegt wurden, sondern es sind im Verfahren über die Entziehung unabhängig von dem im Zuerkennungsverfahren allenfalls getroffenen Feststellungen neuerlich Feststellungen über die für die Zuerkennung wesentlichen Tatsachen zu treffen. Geht es um die Entziehung einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit, so sind daher zunächst der körperliche und geistige Zustand des Versicherten und sein Leistungskalkül für die Zeit der Zuerkennung der Leistung festzustellen (10 Ob S 389/90 = SSV-NF 5/5 - in Druck -, teilweise veröffentlicht JUS 1991/738).

Nach den für den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen der Tatsacheninstanzen konnte die Klägerin im Zeitpunkt der "Weitergewährung" der befristet zuerkannten Invaliditätspension leichte Arbeiten in allen Körperhaltungen in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Ruhepausen verrichten und auch den Arbeitsplatz erreichen, allerdings keinerlei Arbeiten in gebückter Haltung leisten. Bei diesem Leistungskalkül ist aber offenkundig, daß die Klägerin damals alle leichten Berufe in sitzender Haltung verrichten konnte, die ein Bücken nicht erfordern, also etwa auch die Tätigkeiten einer Montiererin in der Metall- und der Kunststoffbranche oder Hilfstätigkeiten in der Lederwarenbranche verrichten konnte, bei der etwa einfache Aufnäharbeiten oder Bestückungstätigkeiten durchgeführt werden oder etwa Handschuhe zu verpacken sind. Die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nach § 255 Abs. 3 ASVG lagen daher im Zeitpunkt der "Weitergewährung" nicht vor, so daß die Entziehung selbst dann nicht gerechtfertigt ist, wenn sich nunmehr das Leistungskalkül geringfügig gebessert hat und sich die Klägerin in geringem Umfang wieder bücken kann. Der Einwand der Revisionswerberin, die Weitergewährung sei auf Grund eines Gutachtens erfolgt, das in einem den Hilflosenzuschuß betreffenden Verfahren erstattet wurde, schlägt nicht durch, weil es wie bereits gesagt nicht darauf ankommt, welche Tatsachen der Zuerkennung zugrundegelegt wurden, sondern darauf, welche im nunmehrigen Verfahren feststehen. Danach steht aber für den Obersten Gerichtshof bindend fest, daß die Klägerin bereits 1986 jeden Arbeitsplatz erreichen konnte, weshalb die dies verneindenden Ausführungen der Revisiosnwerberin nicht vom festgestellten Sachverhalt ausgehen. Daß die Klägerin nicht in der Lage gewesen sei, Schuhe oder Strümpfe anzuziehen, ist im vorliegenden Verfahren nicht festgestellt. Sie selbst verweist in ihrer Revisionsbeantwortung darauf, daß ihr zwar das Anziehen der Strümpfe und Schuhe nicht im Bücken, wohl aber in sitzender Haltung möglich gewesen sei. Die Feststellungen verbieten die Annahme, daß die Klägerin deshalb vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen gewesen wäre, weil sie den Arbeitsplatz nicht hätte erreichen können. Im übrigen handelt es sich beim Ankleiden nur um Vorbereitungshandlungen zur Verrichtung einer Berufstätigkeit. Im privaten Bereich notwendige Maßnahmen, die erforderlich sind, um dem Versicherten letztlich das Aufsuchen des Arbeitsplatzes zu ermöglichen, sind nicht Gegenstand der im Rahmen des Versicherungsfalles der Invalidität versicherten Risken. Kann ein Versicherter den Weg zur Arbeitsstätte ab Verlassen der Wohnung unter den üblichen Bedingungen zurücklegen und eine ihm zumutbare Tätigkeit am Arbeitsplatz ohne Einschränkungen verrichten, so liegt Invalidität nicht vor. Die Tatsache, daß er allenfalls im häuslichen Bereich einer besonderen Betreuung bedarf (zB Hilfe beim Anziehen der Strümpfe und der Schuhe), um den Weg zur Arbeit anzutreten, ist als persönliches Moment bei Prüfung der Frage der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht zu berücksichtigen (SSV-NF 4/78). Da die Voraussetzungen zur Zeit der Zuerkennung der Invaliditätspension, im Sinne der obigen Ausführungen also zur Zeit der Weitergewährung der befristet zuerkannten Invaliditätspension nicht gegeben waren, kann die Leistung nunmehr nicht entzogen werden.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit.a ASVG.

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