Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidung des Berufungsgerichtes wird aufgehoben und in der Sache selbst erkannt: "Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei einen Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß ab 14. Mai 1987 zu gewähren, wird abgewiesen."
Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rekurses selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin "binnen 4 Wochen ab Antragstellung" einen Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es stellte im wesentlichen fest, daß die am 28. August 1912 geborene Klägerin sich zwar weitgehend selbständig an- und ausziehen kann, aber zum Anziehen von Strümpfen und Schnürschuhen fremde Hilfe benötigt. Die Klägerin kann sich selbständig waschen und reinigen und die Notdurft verrichten, sie kann einfache Speisen zubereiten. Sie ist aber nicht in der Lage, Lebensmittel und Brennmaterial herbeizuschaffen, den Kohleofen zu warten und grobe Reinigungsarbeiten zu verrichten.
Daraus folgerte das Erstgericht, die Klägerin sei hilflos im Sinne des § 105 a ASVG, weil sie für das täglich anfallende Anziehen von Strümpfen und Schnürschuhen, das Warten des Kohleofens und für die ein- bis zweimal wöchentlich erforderlichen groben Reinigungsarbeiten monatlich insgesamt sicher mehr als S 3.000,-- aufwenden müsse.
Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge, hob das Ersturteil auf, verwies die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück und sprach aus, daß das Verfahren erst nach Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses fortzusetzen sei.
Es sei der Klägerin zumutbar, ihre Behinderung beim Strumpfanziehen durch einen sogenannten Strumpfanzieher (Strumpfzange) zu kompensieren. Dabei könnten reißfeste Strümpfe verwendet werden, das Tragen von dünnen, leicht zu beschädigenden Strümpfen sei wohl nur bei besonderen Anlässen nötig. Ob die Klägerin aus medizinischen Gründen nur Schnürschuhe tragen dürfe oder diese auch durch Schlüpfschuhe ersetzt werden könnten, stehe nicht fest. Hiezu sei das medizinische Gutachten ebenso ergänzungsbedürftig wie hinsichtlich der Frage, inwieweit die Klägerin die einzelnen Verrichtungen beim Benützen eines Kohleofens (Anheizen, Nachlegen, Asche entleeren) nicht mehr ausüben könne. Es sei der Klägerin nicht zuzumuten, in der kalten Jahreszeit nur ein elektrisch beheiztes Kabinett zu benützen, auf die Benützung ihres nur mit einem Kohleofen ausgestatteten Zimmers aber zu verzichten. Da der Oberste Gerichtshof bisher zur Frage der Zumutbarkeit der Verwendung einer Strumpfzange noch nicht Stellung genommen habe, seien die erforderlichen Verfahrensergänzungen erst nach Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses vorzunehmen.
Dagegen richtet sich der Rekurs der klagenden Partei mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und dem Berufungsgericht die sachliche Entscheidung über die Berufung aufzutragen, in eventu in der Sache selbst über die Berufung zu erkennen und dieser nicht Folge zu geben.
Die beklagte Partei beantragt, dem Rekurs keine Folge zu geben und das erstinstanzliche Urteil im Sinne einer Klageabweisung abzuändern.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs der klagenden Partei ist - allerdings zu ihrem Nachteil - berechtigt.
Gemäß § 519 Abs 2 ZPO ist die Rechtssache bereits zur Entscheidung im Sinne einer Klageabweisung reif.
Bei den Verrichtungen des täglichen Lebens ist die Klägerin nach den Feststellungen des Erstgerichtes nur insoweit eingeschränkt, als sie zum Anziehen von Strümpfen und Schnürschuhen, zum Herbeischaffen der Lebensmittel und des Brennmaterials sowie zur Wartung eines vorhandenen Kohleofens fremder Hilfe bedarf.
Zutreffend hat das Berufungsgericht ausgeführt, daß es der Klägerin zumutbar ist, sich beim Anziehen von Strümpfen eines Hilfsmittels in Form einer Strumpfzange zu bedienen. Es trifft keineswegs zu, daß im Handel zu durchaus günstigen Preisen keine Strümpfe erhältlich wären, die bei Benützung eines solchen bereits seit vielen Jahren angebotenen Hilfsmittels nicht zerreißen. Es seien hier nur die große Anzahl von stark dehnbaren Strümpfen (Stretchmaterial) oder solchen aus Baumwolle, Wolle oder gemischten Geweben erwähnt. Dafür aber, daß die Klägerin aus medizinischen Gründen gezwungen wäre, nur Schnürschuhe zu tragen und keine Schlüpfschuhe verwenden könnte, bieten weder die Feststellungen, die Sachverständigengutachten noch der sonstige Akteninhalt auch nur einen Anhaltspunkt.
Bei der Prüfung, ob es sich um notwendige Dienstleistungen handelt, müssen einerseits die dem hilfsbedürftigen tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und seine Lebensumstände berücksichtigt werden, andererseits ist bei der Schätzung des notwendigen Dienstleistungsaufwandes zumindest jener Standard zugrunde zu legen, der unter nicht hilflosen Beziehern gleich hoher Einkommen im selben Lebenskreis üblich ist. Ausgehend von diesen Gesichtspunkten wird der Klägerin zwar nicht zuzumuten sein, während der Heizperiode nicht auch ihr zweites Zimmer zu benützen und sich nur auf das elektrisch beheizte Kabinett zu beschränken. Brennmaterial wird jedoch weitgehend in ganz Österreich, jedenfalls aber im großstädtischen Bereich ohne besondere Mehrkosten ins Haus geliefert, sodaß hiefür ein zusätzlicher Aufwand kaum entsteht. Selbst wenn man nun davon ausgeht, daß die Klägerin zum Feuer machen und Ausräumen des Kohleofens - dafür, daß sie auch kein Brennmaterial nachlegen kann, besteht kein Anhaltspunkt - hat doch die Klägerin dem Sachverständigen Dr. G*** gegenüber selbst angegeben, sie könne den Ofen nicht mehr komplett bedienen, da sie sich weder bücken noch hinknien oder hinsetzen könne um die Aschenschale auszuräumen - während der Heizperiode sowie zu dem nur zwei- bis dreimal wöchentlich erforderlichen Einkaufen und zu den nur in größeren Zeitabständen anfallenden groben Reinigungsarbeiten fremde Hilfe benötigt, ist auszuschließen, daß die hiefür im Jahresdurchschnitt erforderlichen Kosten die Höhe des monatlichen Hilflosenzuschusses auch nur annähernd erreichen (so auch 10 Ob S 146/87, 10 Ob S 32/88).
Da die Entscheidungsgrundlagen ausreichen, konnte der Oberste Gerichtshof gemäß § 519 Abs 2 ZPO unmittelbar in der Sache selbst und zwar auch zum Nachteil der Rechtsmittelwerberin entscheiden (vgl. Fasching LB Rz 1983).
Die Entscheidung über die Rekurskosten beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)