Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Bei dem am 4.3.1947 geborenen Kläger besteht ein Zustand nach einer im 11. Lebensjahr durchgemachten Kinderlähmung, der eine erhebliche Abmagerung (Muskelverschmächtigung) des rechten Armes bedingt; lediglich die Finger und der Daumen dieser Hand können eingesetzt werden. Es besteht auch eine Seitenverbiegung der Wirbelsäule, Rundrückenbildung, Verspannung der Lendenstrecker sowie eine geringe Fußheberschwäche rechts, ein Zustand nach einem mit Stufenbildung verheilten Unterschenkelbruch links, eine geringe Behinderung des oberen Sprunggelenkes sowie Narben nach verschiedenen Operationen. Bei einem Unfall im Jahr 1988 erlitt der Kläger eine Teilabtrennung des linken Mittelfingers und einen Trümmerbruch des linken Ringfingers. Zufolge seines Leidenszustandes ist der Kläger nur noch in der Lage, leichte Tätigkeiten im Sitzen ohne Einschränkungen zu verrichten. Der Kläger kann praktisch nur einhändig arbeiten, wobei die rechte Hand als "ausgezeichnete" Beihand mit Haltefunktion eingesetzt werden kann. Arbeiten im Gehen und Stehen sind um ein Drittel eines Arbeitstages zu kürzen, Bück- und Hebearbeiten auf die Hälfte eines Arbeitstages und gleichmäßig auf diesen zu verteilen. Tätigkeiten in exponierten Lagen und die Benützung von Steighilfen sind nicht möglich. Arbeiten, die Fingergeschicklichkeit sowie Feingefühl in den Händen erfordern, sind links noch möglich, sollten sich jedoch vorwiegend auf die Verwendung des Daumens und des Zeigefingers beschränken. Überkopfarbeiten und Arbeiten in ständig gebückter Körperhaltung sind nicht möglich. Der Kläger kann Arbeiten unter Akkord- und Fließbandbedingungen nicht mehr leisten, er ist jedoch ganztägig einem normalen und einem forcierten Arbeitstempo gewachsen. Schicht- und Nachtdiensttätigkeiten sind nicht möglich. Der Kläger ist in der Lage, sich neue Kenntnisse zu Schulungs- und Anlernzwecken anzueignen. Er ist in der Lage, die notwendigen Strecken zur Erreichung des Arbeitsplatzes zurückzulegen, kann ein öffentliches Verkehrsmittel benützen, auch Übersiedeln und Wochenpendeln ist möglich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind Krankenstände von 2 Wochen jährlich zu erwarten.
Nach Absolvierung der Pflichtschule arbeitete der Kläger vorerst als Hilfsarbeiter und Wacheorgan. Ab 1970 war er bei einem Unternehmen für Datentechnik als Graveur beschäftigt, wobei er hauptsächlich mit dem Gravieren von Typenrädern für Registrierkassen befaßt war. Nach einer Anlernzeit von rund zwei Jahren führte er die Arbeiten selbständig aus. Zu seinen Aufgaben gehörte dabei das Messen, Anreißen, Feilen, Bohren, Reißen, Sticheln, Anfertigen von Schablonen, die Herstellung von Punzen, das Gravieren von Hand und mit Maschinen, Herstellen von Stahlstichen, Stahlreliefgravuren, sowie Stempel und Formengravuren. Er mußte keine Säge-, Löt- oder Härtearbeiten durchführen und genoß keine Einschulung im Schriftstil.
Graveure sind Absolventen der gleichnamigen dreijährigen Lehrausbildung bzw jener zum Notenstecher oder Ziseleur. Das Gravieren ist ein spanabhebendes Verfahren der Metallbearbeitung. Graveure heben mit Stahlsticheln, Graviermeißeln, Fräsen und Punzen Teile von glatt geschliffenen Metalloberflächen ab. Zum händischen Gravieren werden verschiedene geformte Stahlstichel verwendet; es handelt sich dabei um eine geschliffene Stahlklinge, deren eines Ende in einer Holzkugel steckt. Der Griff ruht beim Gravieren in der hohlen Handfläche, der Zeigefinger liegt auf dem Klingenrücken, Daumen und Mittelfinger halten die Klinge von beiden Seiten. Beim Meißeln und Punzieren mit dem Hammer ist beidhändig zu arbeiten, weil zwei Handwerkzeuge zugleich benutzt werden. CNC-Maschinen (maschinelle Übertragung der Gravurmotive mit Hilfe eines Bildschirmes) erfordern ein intaktes Tastgefühl der Finger beider Hände zum Bedienen der Tastatur. Metallbearbeitungstechniken wie Feilen, Löten und Einspannen erfordern beidhändiges Arbeiten. Alle Tätigkeiten werden in geschlossenen Räumen verrichtet. Sie sind mit einer leichten, an einigen Arbeitsplätzen auch mittelschweren körperlichen Belastung verbunden, wobei in gleichem Maß auch Hebe- und Transportarbeiten auftreten, die jedoch in Summe ein Drittel der Arbeitszeit nicht übersteigen. Die Arbeiten sind zu zwei Drittel im Sitzen und bis zu einem Drittel im Stehen (dabei vielfach in vorgebeugter Körperhaltung), unterbrochen durch Gehen zu verrichten. Tätigkeiten in gebückter Körperhaltung kommen sehr selten vor; Arbeiten in exponierten Lagen und solche unter Benützung von Steighilfen sind nicht berufstypisch. Besonderem Zeitdruck - vergleichbar mit Akkord- oder Fließbandarbeit - sind Graveure nicht ausgesetzt. Zur Abdeckung von Belastungsspitzen wird fallweise forciertes Arbeitstempo gefordert.
Mit Bescheid vom 15.12.1995 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 11.9.1995 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab.
Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger, die beklagte Partei zur Gewährung der Invaliditätspension ab 1.10.1995 zu verpflichten. Er sei in den letzten 15 Jahren vor der Antragstellung überwiegend als angelernter Graveur tätig gewesen und zufolge seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit nicht mehr in der Lage, diesen Beruf auszuüben.
Die beklagte Partei beantragt die Abweisung der Klage.
Das Erstgericht wies das Begehren des Klägers ab. Der Kläger habe im Rahmen der Anlernung nur Kenntnisse von Teiltätigkeiten des Berufes des Graveurs erworben und seinen Beruf auch nur in diesem Rahmen ausgeübt. Die von ihm verrichtete Tätigkeit könne daher nicht als angelernter Beruf im Sinne des § 255 Abs 1 und 2 ASVG qualifiziert werden. Da er in der Lage sei, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Tätigkeiten eines Telephonisten, Portiers und Aufsehers zu verrichten, auf die er gemäß § 255 Abs 3 ASVG verwiesen werden könne, lägen die gesetzlichen Voraussetzungen für die begehrte Leistung nicht vor.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen von Verfahrensmängeln, billigte die Beweiswürdigung des Erstgerichtes und trat dessen rechtlicher Beurteilung im wesentlichen bei. Zu berücksichtigen sei auch, daß der Kläger bereits mit wesentlichen Behinderungen (weitgehende Gebrauchsunfähigkeit des rechten Armes) in das Berufsleben eingetreten sei, die ihn von Beginn an gehindert habe, beidhändige Arbeiten wie das Meißeln, Punzieren mit dem Hammer, Löten, Einspannen zu verrichten und eine CNC-Maschine zu bedienen. Er habe auch keine Säge-, Löt- und Härtearbeiten durchgeführt, Metall nicht chemisch vorbereitet und keine Ausbildung im Schriftstil erworben. Seine durch praktische Tätigkeit erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten könnten daher jenen durch die Absolvierung des Lehrberufes eines Graveurs erworbenen nicht gleichgehalten werden. Die Voraussetzungen für die begehrte Leistung seien daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Da der Kläger in diesem Rahmen verweisbar sei, sei er nicht invalid.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß seinem Begehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Soweit der Kläger in seinen Ausführungen davon ausgeht, daß bei ihm 6 Wochen übersteigende Krankenstände zu erwarten seien, läßt er die Feststellungen außer acht; danach ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nur mit (leidensbedingten) Krankenständen von 2 Wochen zu rechnen. Da der Oberste Gerichtshof keine Tatsacheninstanz ist, ist eine Überprüfung dieser Feststellung im Revisionsverfahren ausgeschlossen.
Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf im Sinne des Abs 1 dieser Gesetzesstelle vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild des Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Es reicht allerdings nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (SSV-NF 3/70 mwH uva). Das Fehlen von einzelnen, nicht zentralen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Lehrberufes steht dagegen der Annahme des Berufsschutzes nicht entgegen. So wurde etwa in der Entscheidung SSV-NF 7/108 der Berufsschutz als Universalschweißer bejaht, obwohl der Versicherte nicht über Kenntnisse von untergeordneten Schweißtechniken verfüge und das Fachzeichnen und Fachrechnen nicht beherrschte.
Die Vorinstanzen haben festgestellt, über welche Kenntnisse und Fähigkeiten ein gelernter Graveur verfügt, welche Techniken zu beherrschen sind und mit welchen Werkzeugen dabei zu arbeiten ist, dem die Tätigkeit des Klägers gegenübergestellt und festgestellt, welche Anforderungen an das Berufsbild eines Graveurs der Kläger nicht erfüllt. Es steht allerdings nicht fest, ob es sich bei den Kenntnissen und Fähigkeiten, die dem Kläger fehlen, um solche handelt, die von gelernten Facharbeitern in diesem Beruf allgemein beherrscht werden, die sohin eine allgemeine Berufsanforderung bilden, oder ob es sich dabei um solche handelt, denen im Beruf des Graveurs keine zentrale Bedeutung zukommt. Für die letztere Annahme könnte sprechen, daß der Kläger nach den Verfahrensergebnissen bei seinem Dienstgeberunternehmen in den letzten Jahren als einziger Graveur tätig war und daher alle einschlägigen Tätigkeiten verrichtete, wobei allerdings nicht feststeht, ob seine Tätigkeit dabei das Spektrum des Graveursberufes weitgehend ausfüllte oder sich nur auf Teiltätigkeiten beschränkte. In diesem Punkt erweist sich das Verfahren ergänzungsbedürftig. Sollte sich erweisen, daß der Kläger über die wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten im Beruf des Graveurs verfügt und diese auch bei seiner Tätigkeit umzusetzen hatte, so wäre vom Vorliegen eines angelernten Berufes auszugehen, auch wenn er einzelne Techniken nicht beherrscht, sofern diesen bei Ausübung des Berufes keine zentrale Bedeutung zukommt.
Sollte sich erweisen, daß dem Kläger in diesem Sinne Berusschutz zukommt, so wäre das Verfahren in einem weiteren Punkt ergänzungsbedürftig. Die Vorinstanzen gingen, ohne dies im einzelnen zu begründen, davon aus, daß der Kläger nicht mehr in der Lage sei, den Beruf eines Graveurs auszuüben (so das Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen, der diese Aussage damit begründete, daß der Kläger - offenbar links, die rechte Hand ist schon sei Kindheit nicht voll einsetzbar - nicht mehr über die notwendige Hand- und Fingergeschicklichkeit verfüge). Die Einschränkungen bezüglich der Hand- und Fingergeschicklichkeit der linken Hand resultieren aus einem Unfall, den der Kläger im Jahr 1988 erlitt. In der Folge war er jedoch nach den Verfahrensergebnissen weiterhin bei seinem Dienstgeber als Graveur tätig und verrichtete die einschlägigen Arbeiten über längere Zeit als einzig einschlägig Beschäftigter. Erst seit 1995 ist er teilweise auch mit anderen Aufgaben befaßt, wobei der Grund hiefür nicht feststeht; die Verfahrensergebnisse scheinen darauf hinzuweisen, daß dies in einem mangelnden Bedarf des Unternehmens an Graveurarbeiten begründet ist. Dafür, daß eine nach dem Unfall vom Jahr 1988 eingetretene Verschlechterung des maßgeblichen Zustandes eingetreten ist, die den Kläger außerstande setzte, seine Tätigkeit weiter zu verrichten, bestehen vorerst keine Anhaltspunkte. Sollte er aber ohne Gefährdung seiner Gesundheit weiter in der Lage sein, seinen bisherigen Beruf weiter auszuüben, wie er dies auch in der Zeit seit seinem Unfall im Jahr 1988 getan hat, so wären die Voraussetzungen für die begehrte Leistung selbst dann nicht erfüllt, wenn ihm Berufsschutz zukommen sollte.
Da sohin für die Beurteilung des Begehrens wesentliche Fragen ungeprüft blieben, leidet das Verfahren an Mängeln, die eine Ergänzung der Entscheidungsgrundlage erforderlich machen. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher aufzuheben und die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.
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