OGH 10ObS291/02w

OGH10ObS291/02w12.11.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Petar M*****, Bundesrepublik Jugoslawien, vertreten durch Mag. Peter Zivic, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. Mai 2002, GZ 8 Rs 143/02m-39, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 17. Dezember 2001, GZ 3 Cgs 63/01b-36, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 10. 1. 2001 lehnte die Beklagte den Antrag des am 18. 3. 1948 geborenen und in der Bundesrepublik Jugoslawien wohnhaften Klägers vom 5. 10. 1999 auf Gewährung der Invaliditätspension ab, weil der Kläger nicht invalid sei. Mit seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger, die Beklagte zur Gewährung der Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab dem Stichtag zu verurteilen. Aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustands sei er nicht in der Lage, einer geregelten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Er habe im Baumeisterbetrieb seines Vaters den Beruf eines Schalungsbauers angelernt und diesen mit wechselnden Teiltätigkeiten ausgeübt.

Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es traf folgende Feststellungen:

Der Kläger erwarb in Österreich im Zeitraum von April 1969 bis Dezember 1973 und von Jänner 1974 bis August 1978 insgesamt 113 Versicherungsmonate. In Jugoslawien erwarb er vom 17. 9. 1966 bis 31. 12. 1966 und vom 21. 7. 1978 bis 27. 3. 2000 insgesamt 263 Versicherungsmonate und 17 Versicherungstage. Er hat vom 22. 7. 1978 bis 31. 8. 2000 bei der Bauunternehmung S***** in S***** P*****, Jugoslawien, Tätigkeiten eines Zimmerers ausgeübt. Seit 27. 3. 2000 bezieht er in Jugoslawien eine Pension.

Trotz seiner Leidenszustände ist der Kläger noch in der Lage, leichte und fallweise mittelschwere Arbeiten in allen Arbeitshaltungen auszuführen und den Arbeitsplatz unter städtischen und günstigen ländlichen Bedingungen zu erreichen. Nicht möglich sind dem Kläger Arbeiten unter überwiegendem besonderen Zeitdruck. Dem Kläger sind nur Arbeiten zumutbar, bei denen ein Gehör für die Umgangssprache von ca 4 bis 5 m Hörbereich genügt. Nicht möglich ist dem Kläger das Arbeiten in ständigem Gehen oder Stehen oder an erhöhten exponierten Stellen. Der Kläger ist für Arbeiten mit einfachem psychischen Anforderungsprofil umschulbar und unterweisbar (vorwiegend körperbetonte Hilfs- und Handlangertätigkeit unter dem Niveau eines Lehrberufs). Mengenleistung ist zumutbar, die Einordenbarkeit gegeben. Die Fingerfertigkeit ist für alle Arten der Manipulation ausreichend. Mit Krankenständen ist bei Kalkülseinhaltung nicht zu rechnen. Eine wechselseitige Leidensbeeinflussung oder -potenzierung besteht nicht. Dieser Zustand besteht seit Antragstellung. Rechtlich führte das Erstgericht aus, es könne dahingestellt bleiben, ob die Frage der Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 1 oder Abs 3 ASVG zu beurteilen sei, weil der Kläger die Wartezeit für die Invaliditätspension nicht erfüllt habe. Die in Jugoslawien erworbenen Versicherungsmonate seien mangels Bestehens eines Sozialversicherungsabkommens nicht zu berücksichtigen. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es verneinte das Vorliegen einer vom Kläger in der Unterlassung einer Klärung des Berufsschutzes erblickten Mangelhaftigkeit des Verfahrens, weil das neue Sozialversicherungsabkommen mit der Bundesrepublik Jugoslawien noch nicht ratifiziert sei. Im Übrigen billigte es die Rechtsansicht des Erstgerichts.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil "abzuändern bzw aufzuheben".

Die Beklagte beteiligte sich am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt. Das zwischen der Republik Österreich und den jugoslawischen Nachfolgestaaten vorerst weiter angewendete Abkommen über soziale Sicherheit vom 19. November 1965 (BGBl 1966/289) idF des Zusatzabkommens vom 19. März 1979 (BGBl 1980/81) und des zweiten Zusatzabkommens vom 11. Mai 1988 (BGBl 1989/269) wurde von der Republik Österreich gemäß seinem Art 48 zum 30. September 1996 gekündigt. Dies hatte zur Folge, dass im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zurückgelegte Versicherungszeiten für die Beurteilung der Erfüllung der Wartezeit nicht herangezogen werden konnten (SSV-NF 14/22 mwN).

Das zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Jugoslawien geschlossene Abkommen über soziale Sicherheit vom 5. 6. 1998 ist nach Ratifizierung am 1. 5. 2002 in Kraft getreten und im Bundesgesetzblatt am 4. 6. 2002 kundgemacht worden (BGBl III 2002/100). Die Bestimmungen dieses Abkommens, die sich auf den Erwerb und die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Sicherheit beziehen, sind ab dem 1. 10. 1996 auf Personen anzuwenden, auf die das zwischen den beiden Vertragsstaaten vor diesem Zeitpunkt in Geltung gestandene Abkommen über soziale Sicherheit anzuwenden war (Art 37 Abs 3 des Abkommens). Dies trifft auf den Kläger zu. Durch diese Regelung sollen die Rechte der vom gekündigten Abkommen erfassten Berechtigten gewahrt werden.

Nach ständiger Rechtsprechung hat das Rechtsmittelgericht auf eine Änderung der Rechtslage Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das umstrittene Rechtsverhältnis anzuwenden sind (Kodek in Rechberger, ZPO² § 482 Rz 11 mwN uva; RIS-Justiz RS0031419). Insbesondere sind Änderungen des zwingenden Rechts, sofern nicht Übergangsrecht etwas anderes bestimmt, vom Rechtsmittelgericht ohne weiteres von Amts wegen seiner Entscheidung zugrundezulegen, auch wenn der zu beurteilende Sachverhalt bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts verwirklicht wurde (SZ 71/89; SZ 69/238 ua).

Der Kläger stellte den Antrag auf Gewährung der Invaliditätspension am 5. 10. 1999. Stichtag für die Überprüfung des Leistungsanspruchs ist gemäß § 223 Abs 2 ASVG der 1. 11. 1999. Dieser Zeitpunkt liegt im zeitlichen Rahmen, für den Art 37 Abs 3 des neuen Abkommens die Geltung der Bestimmungen dieses Abkommens für den Erwerb und die Gewährung von Leistungsansprüchen in Bezug auf den in dieser Regelung genannten Personenkreis, zu dem der Kläger zählt, vorsieht. Die Prüfung des vom Kläger erhobenen Anspruch hat daher auf der Grundlage dieses Abkommens zu erfolgen.

Art 19 Abs 1 dieses hier anzuwendenden Abkommens lautet:

"Hängt nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben eines Leistungsanspruches von der Zurücklegung von Versicherungszeiten ab, so hat der zuständige Träger dieses Vertragsstaates, soweit erforderlich, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen, als wären es nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften zurückgelegte Versicherungszeiten, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen."

Die Wartezeit (§ 236 Abs 1 Z 1 lit b iVm Abs 2 Z 1 ASVG) als Voraussetzung des Leistungsanspruchs (§ 254 Abs 1 Z 2 ASVG) ist erfüllt, weil der zum Stichtag 51 Jahre und sieben Monate alte Kläger nach den Feststellungen innerhalb der letzten 158 Kalendermonate vor dem Stichtag jedenfalls 79 Versicherungsmonate in Jugoslawien zurückgelegt haben muss, die nach Art 19 Abs 1 des Abkommens zu berücksichtigen sind.

Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist die Frage, ob in einem Vertragsstaat zurückgelegte Versicherungszeiten für die Beurteilung eines Berufsschutzes im anderen Vertragsstaat zu berücksichtigen sind, nach dem Regelungsinhalt des konkreten Abkommens zu beurteilen (10 ObS 177/00b; 10 ObS 29/02s; 10 ObS 288/02d). Nach der Fassung des Art 19 Abs 1 des neuen Abkommens ist nicht bloß die Anrechnung von Versicherungszeiten im anderen Staat, sondern darüber hinaus die Gleichstellung vom im Vertragsstaat zurückgelegten Versicherungszeiten mit im Inland zurückgelegten Versicherungszeiten angeordnet, sodass davon auszugehen ist, dass in der Bundesrepublik Jugoslawien erworbene Beitragszeiten auch hinsichtlich der beruflichen Qualifikation für die Frage des Berufsschutzes so zu beurteilen sind wie in Österreich zurückgelegte Versicherungszeiten (10 ObS 288/02t).

Da der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag nur in der Bundesrepublik Jugoslawien berufstätig war, ist für die Frage, ob ihm Berufsschutz zukommt, entscheidend, ob es sich bei der dort von ihm verrichteten Arbeit um eine solche handelte, die im Sinn des § 255 Abs 1 oder 2 ASVG qualifiziert war. Nach seinem Vorbringen hat der Kläger keinen Beruf erlernt; die Frage einer Gleichstellung einer Berufsausbildung nach § 27a BAG stellt sich demnach nicht. Dem Kläger könnte Berufsschutz zukommen, wenn es sich bei der von ihm in Serbien verrichteten Arbeit eines Zimmerers um eine solche handelte, die im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG qualifiziert war. Zur Beurteilung dieser Frage reichen die Feststellungen nicht aus. Nach der getroffenen Feststellung, der Kläger habe vom 22. 7. 1978 bis 31. 8. 2000 Tätigkeiten eines Zimmerers ausgeübt, kann nämlich nicht beurteilt werden, ob und wann der Kläger durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten erworben hat, die jenen im erlernten Beruf eines Zimmermanns gleichzuhalten sind, und ob er eine derart qualifizierte Tätigkeit im maßgeblichen Beobachtungszeitraum des § 255 Abs 2 ASVG überwiegend ausübte.

Es wird daher im weiteren Verfahren erforderlich sein, geeignete Beweisaufnahmen über den Inhalt der Tätigkeit des Klägers in der Bundesrepublik Jugoslawien durchzuführen und die erforderlichen Feststellungen darüber zu treffen, welche Arbeiten der Kläger bei der Bauunternehmung S***** genau verrichtete und welche Kenntnisse und Fähigkeiten hiefür erforderlich waren. Unter Gegenüberstellung mit den Anforderungen des entsprechenden Lehrberufs wird dann die Frage zu klären sein, ob der Kläger, wie er behauptet, überwiegend eine qualifizierte Tätigkeit verrichtete und ihm dementsprechend Berufsschutz zukommt.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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