European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00027.23B.0724.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Kläger auch über den 31. Mai 2016 hinaus Anspruch auf eine Berufsunfähigkeitspension hat.
[2] Dem 1978 geborenen Kläger wurde ab 1. März 1998 wiederholt eine befristete Berufsunfähigkeitspension zuerkannt. Mit Bescheid vom 18. März 2002 wurde ihm ab 1. November 2001 eine unbefristete Berufsunfähigkeitspension gewährt.
[3] Mit Bescheid vom 30. September 2015 entzog die beklagte Pensionsversicherungsanstalt dem Kläger die Berufsunfähigkeitspension (rückwirkend) mit Ablauf des Monats April 2007 und verpflichtete ihn, denin der Zeit von 1. Mai 2007 bis 31. August 2015 entstandenen Überbezug zurückzuzahlen.
[4] Das Erstgerichterkannte die Beklagte mit Teilurteil schuldig, dem Kläger auch für die Zeit von 31. August 2015 bis 31. Mai 2016 die Berufsunfähigkeitspension zu gewähren und stellte fest, dass der Kläger nicht zum Rückersatz der von 1. Mai 2007 bis 31. August 2015 bezogenen Berufsunfähigkeitspension verpflichtet ist. Das Mehrbegehren, dem Kläger die Berufsunfähigkeitspension über den 31. Mai 2016 hinaus zu gewähren, wies es ab.
[5] Das Berufungsgericht gab der (gegen den klageabweisenden Teil der Entscheidung erhobenen) Berufung des Klägers nicht Folge. Die Revision ließ es nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
[6] In seiner außerordentlichen Revision macht der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO geltend.
[7] 1. Die Entziehung einer laufenden Leistung nach § 99 Abs 1 ASVG setzt nach ständiger Rechtsprechung eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen voraus (RIS-Justiz RS0083884 [T1]), wobei für den Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt der Leistungsentziehung in Beziehung zu setzen sind (RS0083876; RS0083884 [T2]). Bei Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit besteht eine wesentliche Änderung etwa in der Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden (RS0083884). Wird die Arbeitsfähigkeit durch diese Änderungen so weit wiederhergestellt, dass der Pensionsbezieher nicht mehr als (invalid oder) berufsunfähig gilt und auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar ist, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt (RS0083884 [T5, T14]). Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug hingegen dann, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Leistungsvoraussetzungen von Anfang an gefehlt haben und sich die Verhältnisse nicht geändert haben. In diesem Fall steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RS0106704; RS0083941).
[8] 1.1. Auf der Grundlage dieser (vom Kläger nicht bezweifelten) Grundsätze ist dem Kläger zwar zuzustimmen, dass unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren getroffenen Feststellungen alle Umstände (neuerlich) festgestellt werden müssen, die für die Beurteilung der Frage notwendig sind, ob die Zuerkennung der Leistung (damals) dem Gesetz entsprach (10 ObS 209/94 SSV-NF 8/87; RS0083884 [T3]; Schramm in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 99 ASVG Rz 7 mwN). Hier bedarf es somit zunächst Feststellungen zum tatsächlichen Zustand (Leistungskalkül) des Klägers im Zeitpunkt der Gewährungsentscheidung (RS0083884 [T6]). Entgegen der Ansicht des Klägers liegen diese Feststellungen vor:
[9] Nach den Feststellungen litt der Kläger bei Gewährung der Berufsunfähigkeitspension an einer schwer ausgeprägten Borderline-Störung und war wegen der dadurch fehlenden Belastbarkeit nicht arbeitsfähig. Wenn das Berufungsgericht davon ausgeht, dadurch sei das damalige individuelle Leistungsvermögen des Klägers, also das Ausmaß seiner Arbeitsfähigkeit (= sein Leistungskalkül) ausreichend abgebildet, bedarf dies keiner Korrektur im Einzelfall. Des vom Kläger vermissten (alle möglichen Aspekte umfassenden) „Gesamtleistungskalküls“ bedarf es in der vorliegenden Konstellation nicht, weil es ausreicht, wenn eine wesentliche Besserung in dem Bereich eintritt, der ursprünglich zum (völligen) Ausschluss vom Arbeitsmarkt geführt hat. Da es im Rahmen der Prüfung nach § 99 Abs 1 ASVG nicht darauf ankommt, ob in anderen, für die Gewährung der Leistung nicht relevanten Bereichen seither allenfalls Verschlechterungen eingetreten sind, solange die Arbeitsfähigkeit insgesamt wiedererlangt wurde (vgl 10 ObS 65/22i), sind detaillierte Feststellungen zu diesen Bereichen im Anlassfall nicht notwendig.
[10] 1.2. Die Beurteilung, dass der Kläger mittlerweile nicht mehr als berufsunfähig anzusehen ist, weil sich die Ausprägung der Borderline-Störung nach den Feststellungen mittlerweile so weit gebessert hat, dass er seit 19. Mai 2016 in der Lage ist, (verkürzt:) leichte bis mittelschwere Arbeiten vor allem ohne besondere psychische Belastungen und ganzzeitig besonderen Zeitdruck auszuüben, sodass Tätigkeiten wie etwa als Hilfsarbeiter in der Werbemittelbranche und bei Adressverlagen oder als Verpackungs-, Einschlicht- und Sortierarbeiter verrichten kann, wird in der Revision zu Recht nicht in Frage gestellt.
[11] 1.3. Die Ansicht, die getroffenen Feststellungen lassen eine abschließende Beurteilung der Voraussetzungen für die Entziehung der Berufsunfähigkeitspension zu, bedarf daher keiner Korrektur.
[12] 2. Wenn der Kläger auf § 252 Abs 3 ASVG verweist, ist nicht ersichtlich, welche Rechtsfolgen er daraus ableiten will. Abgesehen davon übergeht er, dass diese Regelung verhindern soll, dass die Kindeseigenschaft deshalb wegfällt, weil ein Arbeitsversuch am offenen Arbeitsmarkt unternommen wird, obwohl der Betroffene weiterhin, also unverändert erwerbsunfähig ist (vgl 10 ObS 85/22f). Das trifft auf den Kläger gerade nicht zu.
[13] 3. Richtig ist, dass nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG die notwendigen (sechs) Versicherungsmonate nicht innerhalb einer bestimmten Rahmenfrist liegen müssen. Es mag auch sein, dass diese Wartezeit beim Kläger erfüllt war bzw ist. Warum die „ewige Anwartschaft“ einer Entziehung der Leistung nach § 99 Abs 1 ASVG entgegenstehen soll, legt der Kläger nicht nachvollziehbar dar. Aus dem Gesetz lässt sich auch nicht ableiten, dass die Erfüllung der Wartezeit nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG den Pensionsanspruch auch dann wahren soll, wenn die weiteren Voraussetzungen des § 271 Abs 1 ASVG nicht mehr vorliegen.
[14] 4. Insgesamt zeigt der Kläger somit keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf, weshalb die außerordentliche Revision zurückzuweisen ist.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)