OGH 10ObS267/91

OGH10ObS267/9112.11.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Herbert Vesely (Arbeitgeber) und Reinhard Horner (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anus V*****, vertreten durch DDr.Elisabeth Steiner und Dr.Daniela Witt-Dörring, Rechtsanwältinnen in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1203 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65-67, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juni 1991, GZ 31 Rs 84/91-10, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 13.Dezember 1990, GZ 13 Cgs 157/90-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällenden Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Rechtsmittelkosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Klägerin war Anfang 1990 als Bedienerin beschäftigt. Ihre Arbeitszeit dauerte von 5 Uhr bis 10 Uhr und von 15 Uhr bis 17 Uhr. In der Zeit zwischen 10 Uhr und 15 Uhr konnte sie nach Hause gehen und machte von dieser Möglichkeit auch regelmäßig Gebrauch.

Um ihre Arbeitsstätte zu erreichen, ging die Klägerin normalerweise von ihrer in der Schönbrunnerstraße gelegenen Wohnung in dieser Straße stadteinwärts zu einer Autobushaltestelle. Am 1.2.1990 verließ sie ihre Wohnung schon um 14 Uhr und ging stadtauswärts. Sie wollte in einem in der Reinprechtsdorferstraße gelegenen Geschäft für sich und ihre Arbeitskolleginnen Kaffee einkaufen. Das Geschäft befindet sich auf der stadteinwärts gelegenen Seite der Reinprechtsdorferstraße. Die Klägerin hätte diese Straße nicht überqueren müssen, um das Geschäft zu erreichen. Als sie sich in der Reinprechtsdorferstraße befand, sah sie jedoch auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Freundin, die ihr zuwinkte. Sie faßte hierauf den Entschluß, die Reinprechtsdorferstraße zu überqueren, um zu ihrer Freundin zu gehen. Außerdem wollte sie auch zu einem auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegenden Geschäft gelangen, um sich dort über für den eigenen Bedarf bestimmte Waren zu informieren oder sie zu kaufen.

Die Klägerin betrat die Straße und wartete in einer Parklücke den fließenden Verkehr ab. Dort erlitt sie eine Verletzung des inneren Seitenbandes und des vorderen Kreuzbandes des rechten Kniegelenks, als sie von einem PKW umgestoßen wurde, dessen Lenker nach rückwärts fuhr, um sich in den fließenden Verkehr einzuordnen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 1.2.1990 eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß (tatsächlich begehrt: im Ausmaß von 60 % der Vollrente) zu gewähren und festzustellen, daß die beklagte Partei der Klägerin für alle Folgen aus diesem Arbeitsunfall hafte, ab. Es beurteilte den wiedergegebenen, von ihm festgestellten Sachverhalt rechtlich dahin, daß es nicht darauf ankomme, ob die Klägerin den Weg zu dem Geschäft, in dem sie Kaffee kaufen wollte, im Interesse oder gar im Auftrag ihres Dienstgebers zurückgelegt habe. Da sie die Fahrbahn nur aus in den Privatbereich fallenden Gründen betreten habe, sei hiedurch jedenfalls die örtliche Beziehung des Weges zur Arbeitsstätte verloren gegangen. Ein Arbeitsunfall liege deshalb nicht vor.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Selbst wenn die Klägerin den Weg in Richtung Reinprechtsdorferstraße eingeschlagen hätte, um über Auftrag ihres Arbeitgebers Kaffee zu besorgen, läge eine den Versicherungsschutz ausschließende Unterbrechung des Weges vor, weil sie den Weg zur Vornahme privater Besorgungen unterbrochen habe. Dies führe zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes während dieser Verrichtungen.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn des Klagebegehrens abzuändern oder es aufzuheben und (die Rechtssache) zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Bei dem behaupteten Verfahrensmangel handelt es sich um einen Mangel des Verfahrens erster Instanz, der schon den Gegenstand der Berufung bildete und den das Berufungsgericht nicht als gegeben ansah. Ein solcher Mangel kann aber nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in der Revision nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden (für Sozialrechtssachen SSV-NF 1/32, 3/115 uva). Diese Rechtsprechung wurde allgemein zuletzt von Hoyer (Entscheidungsbesprechung in JBl 1991, 448) kritisiert. Der erkennende Senat vermag sich seinem Argument nicht anzuschließen, daß der ihr zugrundeliegende Größenschluß zu den Nichtigkeitsgründen nicht zulässig sei, weil sie mit Verfahrensmängeln nicht verglichen werden dürften. Zu den Nichtigkeitsgründen zählt unter anderem, daß einer Partei die Möglichkeit, vor Gericht zu verhandeln, durch ungesetzlichen Vorgang, insbesondere durch Unterlassung der Zustellung entzogen wurde (§ 477 Abs 1 Z 4 ZPO). Kommt das Berufungsgericht zu Unrecht zur Meinung, daß dieser Nichtigkeitsgrund im Verfahren erster Instanz nicht vorliege, so kann er vom Obersten Gerichtshof nicht mehr wahrgenommen werden, obwohl der Partei dann unzutreffend die Möglichkeit genommen wurde, eine Prozeßhandlung vorzunehmen, also etwa ein Vorbringen zu erstatten oder einen Beweisantrag zu stellen. Es ist nicht einzusehen, warum etwas anderes gelten müßte, wenn die Partei zwar die Möglichkeit hatte, die Prozeßhandlung vorzunehmen, wenn das Berufungsgericht aber - wenn auch möglicherweise unzutreffend - der Ansicht ist, es bilde keinen Verfahrensmangel, daß der Verfahrenshandlung vom Erstgericht nicht Rechnung getragen, also etwa der beantragte Beweis nicht aufgenommen wurde. Da es dem Obersten Gerichtshof verwehrt ist, den sicherlich schwerwiegenderen Verstoß der Verletzung des Parteiengehörs an sich aufzugreifen, muß es ihm umso eher verwehrt sein, Verfahrensmängel wahrzunehmen, die mit dem Vorbringen oder mit Anträgen der dem Verfahren beigezogenen Parteien im Zusammenhang stehen. Daß Nichtigkeiten auch dann wahrzunehmen sind, wenn ihr Vorliegen nicht kausal für das Ergebnis in der Hauptsache war, während nur das Ergebnis kausal beeinflussende Mangelhaftigkeiten aufzugreifen sind, spricht nicht gegen, sondern für die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, weil daraus nur abzuleiten ist, daß der Gesetzgeber der Wahrnehmung einer Nichtigkeit größeres Gewicht als jener einer Mangelhaftigkeit beimißt. Nicht zu erkennen ist, warum dem Gesetzgeber ein Fehler bei der Wahrnehmung einer Nichtigkeit unwahrscheinlicher als ein Fehler bei der Entscheidung über eine Mangelhaftigkeit erscheinen durfte, zumal die Nichtigkeitsgründe zu zahlreichen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs Anlaß gaben (vgl MGA ZPO14 E zu § 477 ZPO).

In der Sache ist zu beachten, daß sich die Klägerin nach dem Verlassen ihrer Wohnung nicht auf dem üblichen und kürzesten Weg zur Arbeitsstätte, sondern auf einem in die entgegengesetzte Richtung führenden Weg befand, der somit dem gewöhnlichen Weg zur Arbeitsstätte nicht als gleichwertig angesehen werden kann (vgl hiezu SSV-NF 3/132 ua). Dieser Weg konnte daher nicht gemäß § 175 Abs 2 Z 1 ASVG als Arbeitsweg unter Versicherungsschutz stehen. Dem Vorbringen der Klägerin ist aber auch die Behauptung zu entnehmen, daß sie von einer Angestellten ihres Arbeitgebers den Auftrag zum Einkauf des Kaffees gehabt und daß dieser Auftrag den Grund für die Zurücklegung des Weges gebildet habe. In diesem Fall hätte die Zurücklegung des Weges einen Teil der die Versicherung begründenden Beschäftigung bilden können und wäre dann ein sogenannter Betriebsweg gewesen, der gemäß § 175 Abs 1 ASVG unter Versicherungsschutz gestanden wäre.

Nach Ansicht des erkennenden Senates müssen für den Betriebs- und Arbeitsweg die gleichen Grundsätze gelten. Er schließt sich dabei der im Schrifttum und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Auffassung an, daß die wegen einer privaten Besorgung notwendige - räumliche - Unterbrechung des Weges erst beginnt und damit der Versicherungsschutz erst verlorengeht, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung 487c; Lauterbach, Unfallversicherung 278/3 je mwN). Dafür spricht schon die Verkehrsauffassung, nach der der gesamte öffentliche Verkehrsraum als Teil des Weges angesehen wird, den jemand zurücklegt. Es muß dabei dem Versicherten überlassen werden, in welchem Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes er sich bewegt. Überdies wird es manchmal nicht feststellbar und meist zumindest nicht verläßlich überprüfbar sein, in welcher Absicht der Versicherte gerade diejenige Teilfläche des öffentlichen Verkehrsraums benützte, auf der sich der Unfall ereignete; dies spricht ebenfalls dafür, den gesamten öffentlichen Verkehrsraum für die Frage des Versicherungsschutzes als Einheit zu behandeln.

Der Versicherungsschutz besteht auf dem gesamten öffentlichen Verkehrsraum allerdings nur, soweit dieser dem Betriebs- oder Arbeitsweg des Versicherten zuzuordnen ist. In diesem Punkt unterscheidet sich der Fall der Klägerin von jenem, der in der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung SSV-NF 2/31 zu beurteilen war, weil sich der Unfall damals auf einer Verkehrsfläche ereignete, die nicht mehr dem Heimweg zuzuordnen war.

Wenn sich die Klägerin auf einem Betriebsweg befand, stand sie zur Zeit des Unfalls unter Versicherungsschutz, weil sich der Unfall innerhalb des öffentlichen, einen Teil des Betriebsweges bildenden Verkehrsraumes ereignete. Es war dann entgegen der Meinung der Vorinstanzen ohne Bedeutung, aus welchen Gründen die Klägerin die Straße überqueren wollte. Im fortzusetzenden Verfahren wird daher in erster Linie zu klären sein, ob und von wem die Klägerin den Auftrag zum Kauf des Kaffees erhielt und wofür dieser bestimmt war. Erst dann wird abschließend gesagt werden können, ob es sich um einen Betriebsweg handelte und daher für sie Unfallversicherungsschutz bestand.

Der Ausspruch über die Rechtsmittelkosten beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.

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