Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 4.058,88 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 676,48 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 13.6.1916 geborene Kläger leidet an einer chronischen Polyarthritis, wobei in erster Linie das Mittelgelenk des rechten Mittelfingers und beide Kniegelenke beteiligt sind; in geringerem Maße sind die Schultergelenke und die Handgelenke betroffen. Weiters liegen eine Neigung zur cardialen Dekompensation und eine reaktive depressive Verstimmung sowie eine Reduktion der Merkfähigkeit vor. Der Kläger kann sich alleine an- und ausziehen und Nahrung zu sich nehmen. Auf Grund der verminderten Kraft und der Bewegungseinschränkung insbesondere der rechten Hand, ist die Zubereitung eines mehrgängigen warmen Menüs nicht mehr möglich. Einschränkungen bestehen in erster Linie beim Öffnen von Dosen und Flaschen, beim Schneiden etwas härterer Nahrungsmittel und bei der Manipulation mit heißem Geschirr. Hilfestellung benötigt der Kläger beim Einkaufen von Nahrungsmitteln und Medikamenten, bei der Wohnungsreinigung sowie bei der Versorgung der Leib- und Bettwäsche. Die oberflächliche Körperreinigung ist problemlos möglich, Hilfestellungen werden aber beim Rasieren sowie beim Be- und Entsteigen der Badewanne benötigt. Die Beschwerden sind starken Tagesschwankungen unterworfen; es kommt vor, daß der Kläger schmerzbedingt praktisch ganztägig bettlägrig ist. Er ist nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe den Arzt aufzusuchen.
Mit Bescheid vom 31.5.1994 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag des Klägers auf Gewährung des Pflegegeldes ab.
Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren dahin statt, daß es die beklagte Partei schuldig erkannte, den Kläger ab 1.9.1994 ein Pflegegeld der Stufe 2 im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Das Mehrbegehren auf Zahlung eines Pflegegeldes für die Zeit vom 1.3. bis 31.8.1994 wurde (rechtskräftig) abgewiesen. Das Erstgericht beurteilte den eingangs festgestellten Sachverhalt rechtlich dahin, daß der Kläger für die Zubereitung der Mahlzeiten monatliche Betreuungsleistungen von 30 Stunden, für die Körperpflege wie das Be- und Entsteigen der Badewanne solche von 4 Stunden und für das tägliche Rasieren unter Zugrundelegung eines Rasieraufwandes von 5 Minuten täglich insgesamt 2,5 Stunden benötige. Für die Hilfsverrichtungen der Herbeischaffung von Nahrungsmittel und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn sei ein fixer Zeitwert von je 10 Stunden nach § 2 EinstV heranzuziehen. Insgesamt bestehe ein Pflegebedarf des Klägers von 76,5 Stunden pro Monat, so daß ihm Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 gebühre.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und bestätigte das Urteil des Erstgerichtes mit der Maßgabe, daß es das dem Kläger gebührende Pflegegeld bezifferte (monatlich S 3.588,- ab 1.9.1994, S 3.688,- ab 1.1.1995). In Erledigung der Beweis- und Tatsachenrüge stellte das Berufungsgericht ergänzend fest, daß sich die vom Sachverständigen geforderte Hilfestellung beim Rasieren sowohl auf die Naßrasur als auch auf die Elektrorasur beziehe. Dem Rechtsstandpunkt der Beklagten, dem Kläger sei zuzumuten einen Bart zu tragen, so daß das tägliche Rasieren entfalle, hielt das Berufungsgericht entgegen, daß auch der betreuungs- und hilfebedürftige Mensch Anspruch auf eine dem allgemeinen Standard angemessene menschengerechte Lebensführung habe. Dazu gehörten grundlegende, die eigene Person betreffende Entscheidungen wie die Wahl des Aussehens durch Tragen eines Bartes oder keines Bartes. Die Prüfung des Betreuungsaufwandes nach der Formel des § 1 Abs 1 EinstV habe von dem Standard einer angemessenen menschengerechten Lebensführung auszugehen. Daher habe das Erstgericht zutreffend einen Zeitaufwand für das tägliche Rasieren von jeweils 5 Minuten angenommen.
Gegen dieses Urteil des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie beantragt die Abänderung dahin, daß dem Kläger lediglich Pflegegeld der Stufe 1 im gesetzlichen Ausmaß gewährt werde. Hilfsweise wird die Aufhebung und die Zurückverweisung zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung begehrt.
Der Kläger erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Soweit die Revision unterstellt, daß der Kläger keine Hilfestellung bei der Trockenrasur (elektrischen Rasur) benötige, ist sie nicht gesetzgemäß ausgeführt, weil sie die dem Tatsachenbereich zuzuordnende Annahme des Berufungsgerichtes außer acht läßt, daß sich die geforderte Hilfestellung beim Rasieren sowohl auf die Naßrasur als auch auf die Trockenrasur bezieht. Diese ergänzende Feststellung wurde vom Berufungsgericht in Erledigung der Beweis- und Tatsachenrüge getroffen, wenngleich ohne Beweiswieder- holung oder Beweisergänzung in der mündlichen Berufungs- verhandlung. Ob darin eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens begründet ist, braucht hier nicht erörtert zu werden, weil die Beklagte eine Mängelrüge in diesem Zusammenhang nicht erhoben hat.
Der Oberste Gerichtshof hat daher von der bindenden Tatsachenannahme der zweiten Instanz auszugehen, daß der Kläger Hilfestellung auch bei einer Trockenrasur benötigt.
Im übrigen vertritt die beklagte Partei die Rechtsansicht, niemand verwahrlose, wenn er sich nicht täglich rasiere; es sei einem Pensionisten durchaus zuzumuten, einen Bart zu tragen und die Bartpflege beim jeweiligen Friseurbesuch vornehmen zu lassen, was im Rahmen der Mobilitätshilfe im weitesten Sinn zu berücksichtigen sei. Die Notwendigkeit einer ordentlich zubereiteten warmen Mahlzeit könne keinesfalls mit der Wahl des Aussehens durch Tragen eines Bartes gleichgesetzt werden. Ohne die Notwendigkeit einer Hilfestellung beim Rasieren erreiche der Kläger aber nicht den für ein Pflegegeld der Stufe 2 erforderlichen Pflegebedarf von mehr als 75 Stunden monatlich.
Dieser Rechtsansicht ist nicht beizutreten. Es trifft zwar zu, daß nach § 1 Abs 1 EinstV unter Betreuung alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen sind, die vornehmlich den persönlichen Bereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Zu diesen Verrichtungen zählen nach Abs 2 insbesondere solche beim An- und Auskleiden, bei der Körperpflege, der Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, der Verrichtung der Notdurft, der Einnahme von Medikamenten und der Mobilitätshilfe im engeren Sinn. Unter Hilfe sind nach § 2 Abs 1 EinstV hingegen aufschiebende Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind. Das tägliche Rasieren ist nun zweifellos der Betreuung nach § 1 EinstV zuzuordnen und zwar im speziellen der Körperpflege. Der Beklagten ist insoweit beizupflichten, als auch ein Bartträger nicht als verwahrlost anzusehen ist, doch darf, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht verkannt werden, daß auch der pflegebedürftige Mensch Anspruch auf eine dem allgemeinen Standard angemessene menschen- gerechte Lebensführung hat, wozu so grundlegende, die eigene Person betreffende Entscheidungen wie die Wahl des Aussehens durch Tragen (oder Nichttragen) eines Bartes gerechnet werden müssen. Das Pflegegeld hat nach § 1 BPGG den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen. Diese Gesetzesstelle ist nicht nur als programmatische Erklärung zu verstehen, sondern bildet gegebenenfalls auch eine - vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgegebene - Leitlinie für die Anwendung des BPGG. Daraus folgt vor allem, daß im Zweifelsfall, das heißt bei sonstiger "Gleichwertigkeit", grundsätzlich jener Interpretation der Vorzug gegeben werden muß, die dem Zweck des Pflegegeldes am ehesten gerecht wird (Pfeil, Die Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 154; derselbe, Bundespflegegeldgesetz 35; ähnlich Gruber/Pallinger BPGG Rz 20 zu § 1). Nach Ansicht des Senates gehört es durchaus zur Führung eines selbstbestimmten Lebens zu entscheiden, sich täglich zu rasieren oder einen Bart zu tragen. Da der Kläger nach den Feststellungen Hilfestellung beim Rasieren im Ausmaß von 2 1/2 Stunden monatlich benötigt, sind die Vorinstanzen zutreffend von einem 75 Stunden übersteigenden Pflegebedarf ausgegangen.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
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