OGH 10ObS2182/96x

OGH10ObS2182/96x16.7.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Othmar Roniger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Karl Dirschmied (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gertraud L*****, vertreten durch Dr.Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.Februar 1996, GZ 8 Rs 172/95-50, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 29.September 1995, GZ 15 Cgs 73/94y-43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahingehend abgeändert, daß das Klagebegehren des Inhaltes, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin die Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab 1.3.1994 sowie bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von S 4.800,-- zu gewähren, abgewiesen wird.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 19.9.1948 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. In den letzten Jahren vor dem maßgeblichen Stichtag am 1.3.1994 war sie als Bedienerin und Hilfsarbeiterin im Handel beschäftigt. Seit ihrem 14. Lebensjahr leidet sie an Anfällen aus einem epileptischen Formenkreis; überdies besteht eine Leberzirrhose. Trotz bereits vieljähriger hochdosierter medikamentöser Behandlung erleidet die Klägerin derzeit etwa ein bis zwei große epileptische Anfälle pro Monat, und zwar nahezu immer tagsüber. Ein solcher Anfall löst bei ihr jeweils für die Dauer von mindestens einem (zur Gänze) bis höchstens zwei Tagen Arbeitsunfähigkeit aus. Durch eine optimierte antiepileptische Therapie kann diese Anfallsfrequenz möglicherweise (auf durchschnittlich einen Anfallstag pro Monat) reduziert werden; die Wahrscheinlichkeit hiefür ist allerdings gering und liegt bei nur etwa 30 %. Hingegen kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, daß die Herbeiführung eines völlig anfallfreien Zustandes gelingt. Die derzeitige antiepileptische Therapie zieht eine kontinuierliche Verschlechterung ihres Leberleidens nach sich.

Die Klägerin ist imstande, leichte Arbeiten in temperierten Räumen an nicht exponierten Stellen in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen zu leisten und den Arbeitsplatz zu erreichen. Arbeiten mit leberschädigenden Stoffen, Fabriks-, Akkord- und Bandarbeiten sind nicht mehr möglich.

Mit Bescheid vom 6.5.1994 hat die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Invaliditätspension mangels Invalidität im Sinne des § 255 ASVG abgelehnt. In ihrer Klage stellte die Klägerin das Begehren, ihr eine solche im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag zu gewähren.

Die beklagte Partei wandte (nur) ein, daß die Klägerin noch ausreichende Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne, weshalb sie nicht invalid sei.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei zur Zahlung einer Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab 1.3.1994 und weiters zur Zahlung einer vorläufigen Leistung in Höhe von S 4.800,-- (gemeint wohl: monatlich) bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides.

Über den eingangs bereits zusammengefaßt wiedergegebenen Sachverhalt hinaus stellte es noch fest, daß Personen, die am Arbeitsplatz wiederholt große epileptische Anfälle erleiden, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt regelmäßig nur bei besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers beschäftigt werden. In rechtlicher Hinsicht folgerte es, daß zwar das festgestellte Leistungskalkül der Klägerin für eine Reihe von Verweisungsberufen (wie Wäschelegerin-Adjustiererin in der Textilwarenerzeugung, Sortier- und Verpackungsarbeiterin in der Leder-, Galanterie-, Elektrowaren- und Kunststofferzeugung) ausreiche, ihr Anfallsleiden jedoch jährliche Krankenstände von etwa 7 Wochen nach sich ziehe (zuzüglich solcher aus verlängerten Infekt- oder Erkältungszuständen bzw ihrem Leberleiden), sodaß schon daraus ein Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt abzuleiten sei. Ein solcher ergebe sich darüber hinaus auch noch aus den wiederholt tagsüber auftretenden epileptischen Anfällen, wodurch sich der gegenständliche Sachverhalt auch von jenem der Entscheidung SSV-NF 5/82 unterscheide.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei erhobenen Berufung nicht Folge. Es übernahm alle Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich. Zwar seien aus den epileptischen Anfällen der Klägerin leidensbedingte Krankenstände von 7 Wochen oder mehr nicht gesichert abzuleiten, sondern bloß maximal von 48 Tagen, zumal solche aufgrund des Leberleidens mangels gesicherter Prognose nicht verwertet werden könnten. Trotzdem liege ein absoluter Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt vor, weil eine Beschäftigung der Klägerin nur vom besonderen Entgegenkommen des Dienstgebers abhängig sei und sich der gegenständliche Fall insoweit auch wesentlich von früher bei Epileptikern entschiedenen unterscheide. Das Vorbringen der beklagten Partei in der Berufung, wonach die Klägerin bereits bei ihrem Berufsantritt vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen gewesen sei und aus diesem Grunde mangels Verschlechterung nicht invalid sein könne, sei wegen des auch in Sozialrechtssachen geltenden Neuerungsverbotes unbeachtlich; daß die Klägerin bereits seit ihrem 15. Lebensjahr an Anfällen aus dem epileptischen "Formel"[richtig: Formen]kreis leide, sei insofern eine überschießende und nicht in den Einwendungen der beklagten Partei Deckung findende Feststellung des Erstgerichtes.

In ihrer auf die Revisonsgründe der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens einerseits und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung andererseits gestützten Revision beantragt die beklagte Partei primär die Abänderung des berufungsgerichtlichen Urteiles im Sinne einer Klags- abweisung; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in welcher das Vorliegen der geltend gemachten Revisionsgründe bestritten und beantragt wird, dem Rechtsmittel ihrer Gegnerin den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

Das gemäß § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch ohne Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des Abs 1 leg cit zulässige Rechtsmittel ist berechtigt, und zwar selbst dann, wenn die von der beklagten Partei in ihren Rechtsmittelschriftsätzen erhobenen Einwendungen eines von der klagenden Partei bereits ins Arbeitsleben eingebrachten medizinischen Leidenszustandes (Epilepsie) tatsächlich - so wie vom Berufungsgericht angenommen, von der Revisionswerberin jedoch in Abrede gestellt - zufolge des auch in Sozialrechtssachen geltenden Neuerungsverbotes unbeachtlich bleiben müßten. Dies aus folgenden Erwägungen:

Der Oberste Gerichtshof (und auch diverse Instanzgerichte) haben sich mit epileptischen Zustandsbildern und der daraus resultierenden Frage des Ausschlusses vom Arbeitsmarkt bereits mehrfach in (veröffentlichten) Entscheidungen zu befassen gehabt. Gemeinsamer Tenor aller dieser Entscheidungen war stets, daß sich nur solche Anfälle, die - bezogen auf ihre Häufigkeit und/oder Dauer - ein solches Ausmaß erreichen, daß der (die) Versicherte in das Arbeitsleben überhaupt nicht eingeordnet werden kann, anspruchsbegründend auswirken. Das Auftreten eines großen epileptischen Anfalls bloß einmal (SVSlg 38.024), ein - bis zweimal pro Monat (SVSlg 38.035), durchschnittlich zweimal pro Monat für höchstens einige Stunden (SSV-NF 4/168, 5/82) oder überhaupt nur alle vier bis fünf Monate (SSV-NF 2/20) wurde dabei ebensowenig für den Arbeitsmarkt ausschlußbegründend erachtet wie der Umstand, daß derartige (vereinzelte) Anfälle etwa auch auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte oder am Arbeitsplatz selbst auftreten können (SVSlg 38.024).

Daß an Epilepsie leidende Menschen insbesondere wegen der bei Arbeitgebern und Arbeitskollegen negative Gefühle auslösenden Begleitumstände von Anfällen vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wären, ist weder festgestellt noch offenkundig (in diesem Sinne bereits SSV-NF 5/82). Der Tatsachenfeststellung (SVSlg 40.730) des Erstgerichtes, daß Arbeitnehmer mit den Einschränkungen der Klägerin regelmäßig nur bei besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers beschäftigt werden, kommt insoweit keine ausschlaggebende Bedeutung zu (ausführlich SSV-NF 6/150; siehe auch bereits zuvor SSV-NF 4/168). Daß durch die bei der Klägerin von den Tatsacheninstanzen festgestellten Anfallsintervalle und -frequenzen (samt dem derzeit bestehenden Leberleidensstatus) die von der Rechtsprechung entwickelte Ausschließungsfrist von jährlich 7 Wochen oder darüber (SSV-NF 3/152, 4/40, 6/3, 70 und 82, jüngst auch 10 Ob S 31/96 und 10 Ob S 42/96) nicht erreicht noch gar überschritten wird, hat bereits das Berufungsgericht richtig ausgeführt bzw widerlegt, sodaß zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit auf dessen zutreffende Begründung verwiesen werden kann (§ 48 ASGG).

Da die Klägerin - wiederum feststellungskonform - imstande (und ihr auch zumutbar) ist, in diversen Verweisungsberufen weiterhin tätig zu sein, ist bei ihr damit Invalidität im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG derzeit noch nicht gegeben. Was die Anzahl der Verfügbarkeit solcher Berufe betrifft, haben die Vorinstanzen zwar keine ausdrückliche Feststellung getroffen und der berufskundliche Sachverständige auch nur ausgeführt, daß solche "in ausreichender Anzahl" auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden wären (ON 11); dies ist vorliegendenfalls jedoch deshalb nicht weiter schädlich, weil es bei allgemein bekannten "gängigen" Verweisungsberufen keiner detaillierten Erhebung über die Anzahl der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhandenen Arbeitsplätzen bedarf (SSV-NF 2/20), vielmehr allgemeinkundige Tatsachen dieser Art auch ohne Beweisaufnahme und ohne vorherige Erörterung mit den Parteien der gerichtlichen Entscheidung zugrundegelegt werden können (jüngst 10 Ob S 2050/96k und 10 Ob S 2107/96t). Ob ein Versicherter auch tatsächlich einen solchen Dienstposten finden wird, ist nach der ständigen Rechtsprechung für die Frage der Berufsunfähigkeit dabei ohne Bedeutung (SSV-NF 1/23, 2/5, 2/14, 6/56, 8/92).

In Stattgebung der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs Z 2 lit b ASGG. Besondere Gründe im Sinne dieser Gesetzesstelle wurden von der Klägerin in ihrer Revisionsbeantwortung nicht geltend gemacht.

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