OGH 10ObS215/98k

OGH10ObS215/98k23.6.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer und die fachkundigen Laienrichter Dr.Michael Braun (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ing.Hugo Jandl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ulrike F*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13.Februar 1998, GZ 8 Rs 399/97y-61, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2.September 1997, GZ 10 Cgs 223/94w-57, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Die am 31.8.1961 geborene Klägerin hat den Beruf des Einzelhandelskaufmanns (der Einzelhandelskauffrau) erlernt und mit Lehrabschlußprüfung abgeschlossen. Sie war als kaufmännische Angestellte, Arbeiterin in einer Bäckerei, Regalbetreuerin, Lagerarbeiterin und Kassierin berufstätig; seit 1987 ist sie arbeitslos. Seit 1969, also seit ihrem 8. Lebensjahr, leidet die Klägerin an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus vom Typ I.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 24.11.1994 wurde der Antrag der Klägerin vom 22.6.1994 auf Zuerkennung der Invaliditätspension abgelehnt.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Zahlung der Invaliditätspension ab 1.7.1994 im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte unter anderem fest, wegen der Möglichkeit von Unterzuckerungszuständen, die nicht immer rechtzeitig registriert werden könnten, sei es erforderlich gewesen, der Klägerin während der Arbeitszeit alle zwei bis drei Stunden die Möglichkeit einer maximal 15-minütigen Pause zur Blutzuckerbestimmung und zur Verabreichung der nötigen Insulindosis sowie zum Einnehmen einer kleinen Zwischenmahlzeit zu geben; diese Pausen hätten etwa 10 Minuten gewährt. Damit stehe fest, daß die Klägerin mit diesem schlechten Zustand in das Berufsleben eingetreten sei. Ab März 1996 bestehe erstmals eine stabile Stoffwechsellage, wodurch eine Blutzuckerneueinstellung möglich geworden sei. Damit ergebe sich eine Kalkülsverbesserung insoferne, als die Arbeitszeit für Blutzuckermessungen ab März 1996 nicht mehr unterbrochen werden müssen. Seither könne sie Kontrollarbeiten, Tischarbeiten, Sortier- und Verpackungsarbeiten durchführen.

Aus diesem Sachverhalt folgerte das Erstgericht in rechtlicher Hinsicht, daß die Klägerin wegen der Forderung nach einer periodischen zwei- bis dreistündigen Unterbrechung der täglichen Arbeitszeit auch außerhalb der "offiziellen" Pausen für die Zeit von jeweils etwa 10 Minuten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bis Februar 1996 nicht mehr vermittelbar gewesen sei; da sie aber mit diesem Leiden in das Berufsleben eingetreten und zu diesem Zeitpunkt bereits invalid gewesen sei, habe der Versicherungsfall der verminderten Arbeitsfähigkeit nicht eintreten können. Seit März 1996 könne sie auf verschiedene Tätigkeiten verwiesen werden und die gesetzliche Lohnhälfte des § 255 ASVG erzielen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es ging auf den Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung nicht ein, weil die Berufung nicht erkennen lasse, welche Beweise das Erstgericht unrichtig gewürdigt und welche Feststellungen zu treffen gewesen wären; damit erfülle die Berufung nicht die Mindestvoraussetzungen für eine ordnungsgemäß ausgeführte Beweisrüge. Auch die Rechtsrüge wurde vom Berufungsgericht damit abgetan, daß sie nicht erkennen lasse, warum die rechtliche Beurteilung durch das Erstgericht unzutreffend sein solle; sie sei daher nicht gesetzeskonform ausgeführt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie beantragt die Abänderung im Sinne einer Stattgebung ihres Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Die Revision ist im Sinne ihres Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (§ 503 Z 2 ZPO) macht die Klägerin zutreffend geltend, daß das Berufungsgericht auf die in der Berufung enthaltenen Ausführungen zur unrichtigen Tatsachenfeststellung eingehen hätte müssen. Ein Mangel des Berufungsverfahrens ist unter anderem dann gegeben, wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweiswürdigungsrüge nicht oder nur so mangelhaft befaßt hat, daß keine nachvollziehbaren Überlegungen über die Beweiswürdigung angestellt und im Urteil festgehalten sind (Rechberger/Kodek, ZPO § 503 Rz 3 mwN). Um die Beweisrüge im Sinne der ständigen Rechtsprechung "gesetzmäßig" auszuführen, muß der Rechtsmittelwerber angeben oder zumindest deutlich zum Ausdruck bringen, welche konkrete Feststellung bekämpft wird, infolge welcher unrichtigen Beweiswürdigung sie getroffen wurde, welche Feststellung begehrt wird und aufgrund welcher Beweisergebnisse und Erwägungen diese begehrte Feststellung zu treffen gewesen wäre (Rechberger/Kodek, ZPO § 471 Rz 8 mwN). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes wird die in der Berufung der Klägerin enthaltene Beweis- und Tatsachenrüge den dargestellten Anforderungen gerecht. Sie hatte dort ausgeführt, der von ihr mit Schriftsatz dem Erstgericht vorgelegte Auszug aus dem Ambulanzakt des Krankenhauses Lainz mache entgegen den Behauptungen im Ergänzungsgutachten der internistischen Sachverständigen sehr wohl deutlich, daß sich im Krankheitsverlauf während der Schwangerschaft (1986) eine Verschlechterung im Zustand ergeben habe, der auch nach der Geburt des Kindes (im Oktober 1986) weiter angedauert habe. Eine vorhandene Neigung zu Hypoglykämien sei zwar schon seit der Betreuung an der Kinderklinik Glanzing erwähnt, tatsächliche stattgefundene Hypoglykämien hätten aber durch ständige Kontrolle und Neueinstellung weitgehend hintangehalten werden können. Im Auszug aus dem Ambulanzakt des Krankenhauses Lainz seien nur im Jahr 1977 zwei Hypoglykämien und im Jahr 1979 gelegentliche Hypos erwähnt. Die Klägerin habe in dieser Zeit ihre Lehre als Einzelhandelskaufmann abschließen können und sie sei auch in der Folge voll arbeitsfähig gewesen. Erst im Jahr 1986 sei ihr Zustand eskaliert und es sei trotz ständiger Blutzuckerkontrolle manchmal bis zu zwei Hypoglykämien täglich verbunden mit Rettungseinsätzen gekommen. Von 1988 bis 1992 sei der Auszug aus dem Ambulanzakt lückenhaft, was aber nicht heiße, daß es der Klägerin in dieser Zeit besser gegangen sei. Der tatsächliche Zustand der Klägerin in diesem Zeitraum sei von der internistischen Sachverständigen nicht geprüft worden. Unrichtig sei auch die Feststellung, daß es ab März 1996 zu einer Verbesserung der Stoffwechsellage gekommen sei, da im Ambulanzakt vermerkt werde, daß Hauptproblem seien immer wieder die Hypoglykämien; die Patientin spüre keine Warnzeichen und werde immer wieder von tiefen Werten überrascht. Unter Berücksichtigung der umfassenden Dokumentation aus dem Ambulanzakt des Krankenhauses Lainz hätte die Sachverständige zu dem Schluß kommen müssen, daß sich der Zustand der Klägerin im Verlauf ihres Erwerbslebens sehr wohl massiv verschlechtert habe.

Mit diesen Darlegungen hat die Klägerin deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie die wesentliche Tatsachenannahme des Erstgerichtes, es handle sich bei ihrem schlechten Gesundheitszustand um einen von ihr in das Arbeitsleben eingebrachten und in diesem Belang seither im wesentlichen unverändert bestehenden Zustand, der im Sinne der ständigen Judikatur bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben habe, bekämpfte (vgl SSV-FN 1/67, 4/60, 10/13 uva). Sie brachte aber nicht nur deutlich zum Ausdruck, welche konkrete Feststellung sie bekämpft, sondern zeigte auch auf, daß insbesondere das maßgebliche internistische Sachverständigengutachten unrichtig gewürdigt worden sei und daß aufgrund der Krankengeschichte andere Feststellungen getroffen werden hätten können, nämlich dahin, daß die Klägerin zunächst trotz ihrer Zuckerkrankheit im Erwerbsleben gestanden sei (vgl SSV-NF 4/10 und 4/15) und erst durch eine nachträgliche Veränderung des Gesundheitszustandes die Voraussetzungen für die Invaliditätspension eingetreten wären. Ob die von der Klägerin im Rahmen ihrer Beweis- und Tatsachenrüge niedergelegten Erwägungen stichhältig sind, hat der Oberste Gerichtshof nicht zu überprüfen; dies ist Sache des Berufungsgerichtes, das sich seiner Verpflichtung nicht unter Hinweis darauf entziehen durfte, die Berufung würde insoweit die Mindestvoraussetzungen nicht erfüllen.

Der aufgezeigte Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung nach allfälliger mündlicher Berufungsverhandlung. Da die Kläger in ihrer Berufung geltend machte, sie habe trotz ihrer bereits im Kindesalter aufgetretenen Erkrankung so viele Pflichtversicherungszeiten erworben, um die Voraussetzungen für eine Invaliditätspension zu erfüllen, hat sie auch den Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gerade noch hinreichend ausgeführt.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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