OGH 10ObS209/94

OGH10ObS209/9427.9.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Heinrich Matzke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Lohr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Seadin S*****, ohne Beschäftigung (Hilfsarbeiter), ***** vertreten durch Dr.Friedrich Schulz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Weitergewährung der Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. April 1994, GZ 31 Rs 149/93-25, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 11. Mai 1993, GZ 22 Cgs 20/93d-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 12.10.1992 wurde die dem Kläger (angeblich) mit Bescheid vom 4.7.1987 zuerkannte Invaliditätspension mit Ablauf des Monates November 1992 entzogen, weil Invalidität nicht mehr vorliege. Ursprünglich war dem Kläger mit Bescheid vom 4.2.1987 wegen vorübergehender Invalidität ab 1.5.1986 eine bis 30.4.1987 befristete Invaliditätspension zuerkannt worden. In einem zu 38 Cgs 1151/87 des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes (offenbar am 29.1.1988) geschlossenen Vergleich verpflichtete sich die beklagte Partei, dem Kläger die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.5.1987 weiter zu gewähren.

Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der Invaliditätspension ab dem 1.12.1992 gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte fest, der Kläger sei vor Antragstellung immer als Hilfsarbeiter tätig gewesen. Unter Berücksichtigung der elektroneurodiagnostischen und elektroenzephalographischen Befunde sei aus neurologischer Sicht gegenüber der bei der "Pensionszuerkennung" vorgelegenen posttraumatischen Schädigung des plexus brachialis links eine "wesentliche" Besserung eingetreten, da weder zentrale noch periphäre neurologische Ausfälle objektivierbar seien. Unter weiterer Berücksichtigung des chirurgischen Gutachtens könne der Kläger mittelschwere Arbeiten in normaler Schicht mit den üblichen Pausen verrichten, wobei der linke Arm nur passiv gehoben und als Hilfsarm eingeschränkt verwendet werden könne. Der rechte Arm sei voll beweglich. In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht daraus, daß der Kläger nicht als invalid im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG anzusehen sei, weil er wieder als Hilfsarbeiter arbeiten und auch das übliche Entgelt für derartige Hilfsarbeiten erzielen könne. Sein Begehren auf Weitergewährung der Invaliditätspension sei daher abzuweisen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen des gerügten Verfahrensmangels, daß kein berufskundliches Sachverständigengutachten eingeholt worden sei, mit der Begründung, es sei gerichtsnotorisch, daß der Kläger noch verschiedene Hilfsarbeiten verrichten könne (Portier, Werkzeugausgeber, Kontrollarbeiter, Aufseher bei Ausstellungen, Fabrikswächter usw). Das Berufungsgericht übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und einer unbedenklichen Beweiswürdigung. Es trat auch der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bei, daß der Kläger nicht invalid im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG sei.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die rechtzeitige, auf die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagestattgebung, hilfsweise Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres Aufhebungsantrages berechtigt.

Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruchs auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Wie der Senat wiederholt in Übereinstimmung mit der Lehre ausgesprochen hat, setzt der Leistungsentzug nach § 99 Abs 1 ASVG eine wesentliche entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus, wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit denen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist auch ein Leistungsentzug sachlich gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen. An dieser Änderung fehlt es regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen nie vorhanden waren. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen. Dabei ist die Frage, ob eine anspruchsvernichtende, also wesentliche (entscheidende) Änderung der Umstände eingetreten ist, durch Vergleich der zur Zeit der Gewährung der Leistung gegebenen mit den nunmehrigen Verhältnissen festzustellen (SSV-NF 6/17 mwN).

Im vorliegenden Fall ist nach dem unvollständigen Inhalt der Anstaltsakten - nähere Feststellungen der Vorinstanzen fehlen vollkommen - zunächst davon auszugehen, daß die sogenannte erste Gewährung der Invaliditätspension an den Kläger mit Bescheid vom 4.2.1987 eine solche wegen vorübergehender Invalidität war; gemäß § 256 ASVG kann in einem solchen Fall die Invaliditätspension für eine bestimmte Frist zuerkannt werden. Besteht nach Ablauf dieser Frist Invalidität weiter und wurde die Weitergewährung der Pension spätestens innerhalb eines Monates nach deren Wegfall beantragt, so ist die Pension für die weitere Dauer der Invalidität zuzuerkennen. Wird eine zeitlich begrenzte Invaliditätspension zuerkannt, fällt sie nach Ablauf der Frist weg, ohne daß es eines weiteren behördlichen Aktes bedarf. Die Zuerkennung der zeitlich begrenzten Invaliditätspension wirkt daher zumindest für die Frage der Invalidität nicht über die Frist hinaus, weil gerade die Tatsache, daß es sich um eine bloß vorübergehende Invalidität handelt, der Grund und die Voraussetzung für die zeitliche Begrenzung der Pension war. Dem steht nicht entgegen, daß das im § 256 ASVG verwendete Wort "Weitergewährung" auf einen gewissen Zusammenhang mit der zuerkannten Invaliditätspension hindeutet, weil eine andere Auslegung mit dem Zweck der Zuerkennung einer zeitlich begrenzten Invaliditätspension nicht vereinbar wäre. Der Anspruch auf Weitergewährung der Invaliditätspension hängt daher davon ab, ob der Versicherte nach Ablauf der Frist, für die sie zuerkannt wurde, noch erstmals oder wieder als invalid im Sinne des § 255 gilt. Dabei ist ein Vergleich mit den Verhältnissen zur Zeit der Zuerkennung der Invaliditätspension, wie er bei der Entziehung einer Leistung notwendig ist, nicht anzustellen (SSV-NF 2/77 ua, zuletzt 10 ObS 43/94).

Daraus folgt, daß der gerichtliche Vergleich über die "Weitergewährung" der befristet zuerkannten Invaliditätspension über den 30.4.1987 hinaus Ausgangspunkt für die Beurteilung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse sein muß (vgl SSV-NF 6/17). Für die Entziehung der Leistung müssen daher für die Zeit der Weitergewährung der befristet zuerkannten Invaliditätspension alle Umstände festgestellt werden, die für die Beurteilung der Frage notwendig sind, ob die Zuerkennung dem Gesetz entsprach. Es kommt also nicht darauf an, welche Tatsachen der Zuerkennung (dem gerichtlichen Vergleich) zugrunde gelegt wurden, sondern es sind im Verfahren über die Entziehung unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren allenfalls getroffenen Feststellungen neuerlich Feststellungen über die für die Zuerkennung wesentlichen Tatsachen zu treffen. Geht es um die Entziehung einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit, so sind daher zunächst der körperliche und geistige Zustand des Versicherten und sein Leistungskalkül für die Zeit der Zuerkennung der Leistung (hier: Weitergewährung der befristeten Leistung) festzustellen (SSV-NF 5/5, 6/17 ua).

Dieser Forderung entsprechen die Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes nicht. Es wird im fortzusetzenden Verfahren den körperlichen und geistigen Zustand des Klägers und sein Leistungskalkül für die Zeit der Weitergewährung der befristet zuerkannten Invaliditätspension in einwandfreier Weise festzustellen haben. In derselben Weise wird das Erstgericht sodann den körperlichen und geistigen Zustand und das Leistungskalkül des Klägers für die Zeit der Entziehung der Pension festzustellen haben. Erst dann wird beurteilt werden können, ob es gerechtfertigt ist, dem Kläger die Pension zu entziehen, weil zur Zeit der Zuerkennung die Voraussetzungen hiefür erfüllt waren und sich sein Leistungskalkül soweit gebessert hat, daß er nunmehr nicht mehr invalid im Sinn des für ihn unbestritten maßgebenden § 255 Abs 3 ASVG ist.

Da wesentliche Entscheidungsgrundlagen für die Beurteilung der Entziehung der Leistung nach § 99 ASVG fehlen, mußte die Sozialrechtssache unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen an das Erstgericht zurückverwiesen werden, ohne daß es erforderlich ist, auf die weiteren Revisionsausführungen einzugehen. Bereits jetzt sei aber darauf aufmerksam gemacht, daß nach der Rechtsprechung des Senates (SSV-NF 6/26) die Unkenntnis der deutschen Sprache nicht gegen die Verweisbarkeit auf einen bestimmten Arbeitsplatz ins Treffen geführt werden kann.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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