Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 3.7.1989 anerkannte die beklagte Partei (auf Antrag vom 14.12.1988) den Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension wegen vorübergehender Invalidität ab 1.1.1989.
Mit Bescheid vom 20.8.1990 entzog sie diese Pension, weil der Kläger nach der neuerlichen ärztlichen Begutachtung nicht mehr invalid sei. Die Entziehung wurde mit dem Ablauf des auf die Zustellung des Bescheides am 23.8.1990 folgenden Kalendermonates September wirksam.
In der auf Weiterleistung der Invaliditätspension gerichteten Klage bestritt der Kläger, daß sich sein Gesundheitszustand gegenüber dem Zuerkennungszeitpunkt gebessert habe.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Sie behauptete eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes des Klägers. Das rechte Sprunggelenk sei nunmehr versteift und könne durch Wackelbewegungen keine Schmerzen verursachen; hinsichtlich der Zehenamputation sei eine weitere Gewöhnung eingetreten. Der überwiegend als (Hilfs)Arbeiter tätig gewesene Kläger könne nunmehr alle leichten und mittelschweren Arbeiten ohne ständiges Gehen oder Besteigen von Leitern und Gerüsten leisten.
Das Erstgericht gab der Klage statt.
Aufgrund der Gutachten von ärztlichen Sachverständigen für Innere Medizin, Chirurgie sowie Neurologie und Psychiatrie traf es zunächst Feststellungen über den körperlichen und geistigen Zustand des Klägers "ab Antragstellung", womit jedoch nicht der seinerzeitige Pensionsantrag gemeint, sondern auf die Zeit seit der Entziehung abgestellt worden sein dürfte: Nach Darstellung des internen Zustandes, der für die Zuerkennung der "befristeten" - richtig:
entzogenen Pension - nicht entscheidend war, stellte es zum
chirurgischen Zustand fest, daß die Gehfähigkeit und Gangleistung
durch die - nur teilweise genannten - schweren Folgen eines - nicht
näher bezeichneten - Unfalles im rechten Sprunggelenk und die
Teilamputation des ersten bis dritten Mittelfußknochens (rechts) bei
starker Einschränkung der Beweglichkeit im oberen und unteren
hinteren Sprunggelenk rechts deutlich eingeschränkt und die - nicht
näher festgestellten - vorgebrachten Beschwerden bei Belastung
glaubhaft sind. Als Unfallsfolge besteht auch ein Muskelschwund am
rechten Oberschenkel. Der übrige Befund am Stütz- und
Bewegungsapparat ist altersgemäß. Das Tragen orthopädischer Schuhe
während der Arbeit ist erforderlich. Neurologisch-psychiatrisch
bestehen eine geringgradige vegetative Übererregbarkeit und ein
Alkoholpolyneuropathiesyndrom. Aufgrund der Persönlichkeit des
Klägers sind diesem keine Arbeiten unter dauerndem, besonderem
Zeitdruck zumutbar. Zum Vergleich "des Befundes gegenüber dem
Gewährungsgutachten vom 29.5.1989" wurde festgestellt: "Das rechte
obere Sprunggelenk ist nach dem Unfall praktisch steif, im unteren
hinteren Sprunggelenk gibt es eine geringe Zunahme in der
Beweglichkeit. Die Beweglichkeit ist bei Belastung glaubhaft
schmerzhaft. In beiden chirurgisch-orthopädischen Gutachten nach wie
vor Muskelschwund am rechten Oberschenkel feststellbar. Als Besserung
kann man Anpassung und Angewöhnung an die Unfallsfolgen annehmen. Im
Vergleich zum Gewährungsgutachten ist nur eine geringe Besserung
eingetreten. Dies gilt ab Antragstellung. Jetzt kann der Kläger eine
Gehstrecke von 500 m bewältigen. Damals, also zum Unfallszeitpunkt
bzw zum Gewährungszeitpunkt, war es dem Kläger nicht zuzumuten, eine
derartige Gehstrecke ... zu bewältigen. Die Unfallsfolgen ändern sich
durch Gewöhnung mit der Zeit. Im Vergleich zum Gewährungsgutachten
ist aber nur eine geringe Besserung des Leidenszustandes ...
aufgetreten. Die Sachverständige Dr.D H würde diese Besserung nicht
als wesentliche betrachten ...; die Bewegungseinschränkung ... ist
praktisch gleichgeblieben, dies im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt;
auch der Muskelschwund ... ist gleichgeblieben bzw hat sich nicht
signifikant verändert. Es ist auch in Hinkunft ... praktisch keine
wesentliche Besserung zu erwarten."
Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei dem Kläger die Invaliditätspension zu Unrecht entzogen worden, weil er noch als invalid anzusehen sei, zumal sich sein Gesundheitszustand im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt nicht wesentlich gebessert habe.
Das Berufungsgericht gab der nur wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil im klageabweisenden Sinn ab.
Der (richtig die) Sachverständige für Chirurgie habe in seinem (ihrem) Gutachten ausgeführt, und dies sei auch unbekämpft festgestellt, daß der Kläger nunmehr eine Gehstrecke von 500 m bewältigen könne, was ihm zum Gewährungszeitpunkt nicht möglich gewesen sei. Nunmehr sei der Kläger nicht nur in der Lage, Tätigkeiten vorwiegend im Sitzen durchzuführen, sondern aufgrund der Besserung infolge Gewöhnung und Anpassung auch die Arbeitsstelle zu erreichen ("vgl etwa 10 Ob S 363/90 vom 20.11.1990"). Daher sei eine wesentliche Besserung iS des § 99 ASVG eingetreten (SSV-NF 2/105).
Rechtliche Beurteilung
Die nicht beantwortete Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung des klagestattgebenden erstgerichtlichen Urteils abzuändern oder allenfalls die vorinstanzlichen Urteile zwecks Zurückverweisung an das Erstgericht aufzuheben, ist nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig. Sie ist auch iS des Eventualantrages berechtigt.
Nach der stRsp des Obersten Gerichtshofes setzt die Entziehung einer Leistung nach § 99 Abs 1 ASVG eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse voraus, wobei die Verhältnisse zur Zeit der Leistungszuerkennung und zur Zeit der Entziehung zu vergleichen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann ua in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Änderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt. Die nachträgliche Erkenntnis, daß die Voraussetzungen für einen Anspruch zur Zeit der Zuerkennung nicht vorhanden waren, rechtfertigt die Entziehung der Leistung allerdings nicht. Haben sich die objektiven Grundlagen für die Leistungszuerkennung nicht wesentlich geändert, dann steht die Rechtskraft der Zuerkennungsentscheidung der Entziehung entgegen (insbesondere SSV-NF 1/27, 43, 44; 2/43, 90; 20.11.1990 10 Ob S 363/90 = SSV-NF 4/149; zuletzt SSV-NF 5/5).
Ob dem Kläger die mit Bescheid vom 3.7.1989 zuerkannte Invaliditätspension nach § 99 Abs 1 ASVG zu entziehen ist, kann daher erst dann verläßlich beurteilt werden, wenn zunächst der körperliche und geistige Zustand des Klägers und seine Leistungsfähigkeit zur Zeit der Zuerkennung dieser Leistung und nicht zur Zeit seines Unfalls (im April 1988, bei dem der Kläger nach dem Befund des orthopädischen Gutachtens ON 8 AS 17 einen Bruch des rechten Sprunggelenkes (Innen- und Außenknöchelbruch) erlitt,) erörtert und genau (vgl SSV-NF 5/5) festgestellt sind. In derselben Weise werden dann der körperliche und geistige Zustand und das Leistungskalkül des Klägers seit der Zeit der Entziehung zu erörtern und festzustellen sein.
Erst dann kann entschieden werden, ob es gerechtfertigt ist, dem Kläger die Invaliditätspension nach § 99 Abs 1 ASVG zu entziehen, weil die im § 255 Abs 3 leg cit genannten besonderen Anspruchsvoraussetzungen dieser Leistung zur Zeit der Zuerkennung erfüllt waren, seit der Entziehung jedoch nicht mehr vorhanden sind.
Wegen dieser wesentlichen Feststellungsmängel, die von der Revision richtigerweise mit Rechtsrüge geltend gemacht wurden, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 497, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).
Die Meinung des Revisionswerbers, daß er schon deshalb vom
allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre, weil er nur eine
Gehstrecke von 500 m bewältigen kann, ist unzutreffend. Nach der
stRsp des erkennenden Senates (SSV-NF 2/105, 145; 3/10; 5/39 uva),
die in der Revision nicht erwähnt wird und mit deren Begründung sich
der Revisionswerber überhaupt nicht auseinandersetzt, ist ein
Versicherter unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse auf
dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt von diesem wegen einer
Gehbehinderung dann nicht ausgeschlossen, wenn er ein öffentliches
Verkehrsmittel benützen und vorher und nachher unter zumutbaren
Bedingungen eine Wegstrecke von mindestens 500 m bewältigen kann. Ob
der Kläger zur Zeit der Leistungszuerkennung und seit der Entziehung
ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und unter welchen
Bedingungen er die erwähnte Wegstrecke bewältigen konnte und kann,
wird allerdings im fortgesetzten Verfahren zu erörtern und
festzustellen sein.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Revisionskosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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