OGH 10ObS149/19p

OGH10ObS149/19p17.12.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Url Rechtsanwalt GmbH in Knittelfeld, gegen die beklagte Partei Steiermärkische Gebietskrankenkasse, 8011 Graz, Josef Pongratz‑Platz 1, wegen Kostenübernahme, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. August 2019, GZ 6 Rs 35/19t‑37, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00149.19P.1217.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der 1986 geborene Kläger leidet an einer mittelgradigen depressiven Störung und einer chronifizierten schweren Belastungsreaktion bei emotional instabiler Persönlichkeit, weiters an einer nicht organischen Schlafstörung bei stechendem Spannungskopfschmerz und Appetitlosigkeit. Er befindet sich seit seinem 15. Lebensjahr in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung.

Dem Kläger wurden ab 2009 verschiedene Antidepressiva verordnet, die im vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger herausgegebenen Erstattungskodex 2017 enthalten sind. Durch deren Einnahme kam es beim Kläger immer wieder zu Verbesserungen des Zustands, teilweise traten aber auch wieder erhebliche Verschlechterungen auf. Trotz Verschlechterungen der Symptome hat der Kläger zeitweise die ihm ausgestellten Rezepte für die ersatzfähigen Psychopharmaka gar nicht oder nur teilweise eingelöst. Eine erschöpfende Behandlung des Klägers mit den Wirkstoffen aus dem Erstattungskodex 2017 ist bislang nicht erfolgt, sodass noch weitere im Erstattungskodex enthaltene Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen.

Ab dem zweiten Quartal 2014 wurde ihm von einem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie regelmäßig das Präparat Dronabinol (in Form einer magistralen Zubereitung) verschrieben, das im Erstattungskodex nicht enthalten ist. Diese Substanz kommt in natürlicher Form als Wirkstoff der Cannabispflanze vor und ist zu den Cannabinoiden zu zählen.

Dronabinol wirkt ua stimmungsaufhellend, sedierend, entspannend, angstlösend und schmerzlindernd. Bei Depressionen kann Dronabinol hilfreich sein, dies muss aber nicht der Fall sein, die Wirkung kann individuell sehr unterschiedlich sein. Diese Folgerungen ergeben sich aus Erfahrungswerten, sind jedoch nicht wissenschaftlich ausreichend abgesichert. Als wissenschaftlich ausreichend untersucht und gesichert gilt jedoch, dass der Einsatz von Dronabinol bei Appetitlosigkeit und der dadurch bedingten Magersucht (etwa bei Aids‑Patienten oder bei Übelkeit und Erbrechen infolge von Chemotherapien) indiziert ist. Die Nachteile von Dronabinol sind ähnliche Effekte wie bei Cannabisdrogen (bei höheren Dosierungen), nämlich Gewöhnung, Abhängigkeit, Entzugserscheinungen, weiters ua allergische Reaktionen, Blutdruckschwankungen, erhöhte Pulsfrequenz, verzögerte Reaktionsfähigkeit, Schwächeanfälle, Nervosität, Schwindel, Müdigkeit, Verwirrung, Depression (!), Seh- und Wahrnehmungsstörungen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall etc.

Seit der Einnahme von Dronabinol hat sich der allgemeine Gesundheitszustand des Klägers verbessert. Subjektiv sind das Durchschlafverhalten, der Kopfschmerz und der Brechreiz reduziert und Antrieb und Konzentration verbessert. Aus subjektiver Sicht des Klägers haben sich bei ihm keine Nebenwirkungen ergeben. Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers erscheint seine Behandlung mit Dronabinol aus medizinischer Sicht zweckmäßig.

Mit Bescheid vom 4. 4. 2016 lehnte die beklagte Partei die Kostenübernahme für das Präparat Dronabinol ab.

In der dagegen gerichteten Klage bringt der Kläger im Wesentlichen vor, aufgrund der durchlebten nachteiligen Auswirkungen sei ihm nicht zumutbar, sämtliche im Erstattungskodex aufgelisteten Präparate auszuprobieren und weitere „Experimente“ über sich ergehen zu lassen.

Die beklagte Partei wendete zusammengefasst ein, der in Dronabinol enthaltene Wirkstoff sei in Österreich nicht als Arzneimittel zugelassen, sondern als Suchtmittel deklariert. Der Kläger habe die im Erstattungskodex zugelassenen Therapiemöglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft. Eine Therapie mit Dronabinol sei nicht notwendig iSd § 133 Abs 2 ASVG.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass sich die Frage nach der Anwendbarkeit wissenschaftlich nicht gesicherter Methoden („Außenseitermethoden“) nur stelle, wenn mit den im Erstattungskodex erfassten Präparaten eine ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung nicht gewährleistet sei und die Anwendung der wissenschaftlich nicht gesicherten Methode notwendig sei. Wenngleich die Behandlung des Klägers mit Dronabinol durchaus zweckmäßig sei, sei im Verfahren nicht festgestellt worden, dass diese Behandlung unentbehrlich oder unvermeidbar sei. Sie sei daher als nicht notwendig iSd § 133 Abs 2 ASVG anzusehen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Der Kläger habe nicht unter Beweis stellen können, dass die bei ihm noch nicht angewendeten schulmedizinischen Behandlungsoptionen vergleichsweise weniger erfolgversprechend wären oder ihm im Hinblick auf erhebliche unerwünschte Nebenwirkungen unzumutbar wären.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Ein in zweiter Instanz bereits verneinter Verfahrensmangel ist im Revisionsverfahren nicht mehr anfechtbar (RS0042963).

2.1 Nach ständiger Rechtsprechung besteht bei der Krankenbehandlung iSd § 133 Abs 2 ASVG grundsätzlich ein Vorrang der wissenschaftlich anerkannten schulmedizinischen Behandlungsmethoden. Ist eine Krankheit durch schulmedizinische Maßnahmen gut zu behandeln, gibt es keinen Anlass für die Finanzierung von „Außenseitermethoden“ im Sinn einer komplementärmedizinischen bzw alternativen Behandlung (10 ObS 26/14t SSV‑NF 28/23).

2.2 Zwar ist bei einer von der Wissenschaft noch nicht anerkannten alternativen Behandlungsmethode („Außenseitermethode“) ein Kostenersatz nicht ausgeschlossen. Er ist jedoch auf Ausnahmefälle eingeschränkt und wird nur dann gewährt, wenn die komplementärmedizinische Heilmethode einer zweckmäßigen Krankenbehandlung entspricht und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet (RS0083806; RS0083801)

2.3 Dies setzt voraus, dass eine zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung stand oder eine solche versucht wurde und erfolglos blieb, während die „Außenseitermethode“ beim Versicherten erfolgreich war oder sie sich ex ante gesehen (zumindest) als erfolgversprechend darstellte (RS0083792 [T2]).

2.4 Konnten herkömmliche Behandlungsmethoden erfolgreich und ohne Nebenwirkungen angewendet werden (bzw hätten angewendet werden können), besteht kein Anlass zur Kostenübernahme für alternative Heilmethoden durch den gesetzlichen Krankenversicherungsträger (10 ObS 409/02y SSV‑NF 17/54 mwN). In einem solchen Fall ist es auch nicht wesentlich, wie hoch die Kosten der „Außenseitermethode“ im Vergleich zu jenen der schulmedizinischen Behandlung sind (10 ObS 20/95 SSV‑NF 10/33; 10 ObS 2374/96g SSV‑NF 10/121).

3. In diesem Sinn lehnt die ständige Rechtsprechung den Ersatz der Kosten für die komple-mentärmedizinische Behandlungsmethoden („Außenseiter-methoden“) ab, wenn schon mit schulmedizinischen Methoden das Auslangen gefunden werden hätte können, weil in diesem Fall das Maß des Notwendigen überschritten wird (10 ObS 52/96 SSV‑NF 10/30 = DRdA 1997/3, 22 [ Mazal ] = ZAS 1998/3, 42 [ Offenberger ]; 10 ObS 2374/96g SSV‑NF 10/121; 10 ObS 382/98v SSV‑NF 13/65; RS0102470).

4. Für den Anspruch auf Kostenersatz für eine komplementärmedizinische Behandlungsmethode reicht nicht aus, dass nur eine von mehreren schulmedizinischen Methoden versucht wurde (10 ObS 86/09h SSV‑NF 23/81 = ZAS 2011/46, 284 [ Stadler ] = DRdA 2011/43, 440 [ Naderhirn ]; Felten/Mosler, SV‑Komm [23. Lfg] § 133 ASVG Rz 61).

5. Von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung weichen die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht ab:

5.1.1 Nach den Tatsachenfeststellungen sind im Fall des Klägers die von der Wissenschaft anerkannten Behandlungsmethoden nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern teils noch gar nicht versucht worden.

5.1.2 Bei Lösung der Rechtsfrage, ob die alternative Behandlung unentbehrlich bzw unvermeidbar ist, um die medizinisch notwendige Versorgung zu gewährleisten oder ob diese Behandlung eine zu vermeidende unnötige Maßnahme darstellt, haben die Vorinstanzen im Sinn der bisherigen Rechtsprechung auch das Maß der Betroffenheit des Klägers berücksichtigt, indem sie auf die möglichen und den Kläger konkret treffenden Auswirkungen (Erfolg und unerwünschte Nebenwirkungen) der schulmedizinischen Behandlung und der alternativen Behandlungsmethode (jeweils aus objektiver und subjektiver Sicht) eingegangen sind. Was die unerwünschten (erheblichen) Nebenwirkungen der schulmedizinischen Behandlungsmethoden betrifft, waren solche weder bei den bislang verordneten (schulmedizinischen) Präparaten objektiv feststellbar, noch steht fest, dass derartige Nebenwirkungen beim Kläger auftreten werden, wenn bisher noch nicht gewählte schulmedizinische Behandlungsmethoden angewandt werden sollten. Wenngleich der Kläger subjektiv meint, dass Dronabinol bei ihm keine unerwünschten nachteiligen Nebenwirkungen zeitigt, war objektiv gesehen nicht feststellbar, ob jene Beschwerden, die bei ihm im Jahr 2016 (nach Einnahme von Dronabinol) aufgetreten sind, Symptome der (sich gerade wieder verschlechternden) Grunderkrankung waren oder ob sie nicht doch (häufig auftretende) Nebenwirkungen des Präparats Dronabinol darstellten.

5.2 Ausgehend von diesen Umständen des Einzelfalls steht die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dem Kläger sei der Beweis nicht gelungen, dass die Verordnung von Dronabinol unentbehrlich bzw unvermeidbar war, mit der zitierten Rechtsprechung in Einklang. Die Beurteilung, dass die Verschreibung dieses Präparats das Maß des Notwendigen iSd § 133 Abs 2 ASVG überschreite, ist nicht zu beanstanden. Dass der Kläger allen – auch den bisher bei ihm auch noch nicht angewandten – schulmedizinischen Behandlungsmethoden offenbar ablehnend gegenübersteht und subjektiv vermeint, diese Behandlungen wären von vornherein nicht erfolgversprechend und ihm daher unzumutbar, kann den begehrten Kostenersatz nicht rechtfertigen.

6. Da sich die Entscheidung des Berufungsgerichts in allen vom Kläger relevierten Fragen an der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs orientiert, war die außerordentliche Revision mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen .

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte