OGH 10ObS14/87

OGH10ObS14/8720.10.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Köck und Karl Siegfried Pratscher als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Margarete R***, Hausfrau, 2700 Wiener Neustadt, Wöllersdorferstraße 10/2/27, vertreten durch Dr. Rudolf Hubalek und Dr. Johann Mayerhofer, Rechtsanwälte in Wiener Neustadt, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. März 1987, GZ 33 Rs 32/87-97, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Niederösterreich in Wien vom 10. Dezember 1986, GZ 1 C 40/84-92 (4 Cgs 523/87 des Kreisgerichtes Wiener Neustadt), bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension gerichtete Klagebegehren im wesentlichen mit der Begründung ab, daß die Klägerin nicht berufsunfähig sei, weil sie aufgrund ihres Leistungskalküls den Beruf einer Bediensteten der Arbeitsmarktverwaltung, in dem sie bisher tätig gewesen sei, oder auch einen kaufmännischen Beruf vergleichbarer Qualifikation ausüben könne.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin gegen dieses Urteil wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung sowie wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens erhobenen Berufung keine Folge. Die Beweiswürdigung des Erstgerichtes könne zufolge dem hier gemäß § 101 Abs 2 ASGG noch anzuwendenden § 400 Abs 2 ASVG nicht bekämpft werden. Die Klägerin habe nicht aufzeigen können, daß die ärztlichen Sachverständigen wesentlichen Prozeßstoff (Beschwerden und Leiden der Klägerin) unbeachtet gelassen haben. Die Ergebnisse der gerichtsärztlichen Begutachtung bzw. ihre Zusammenfassung sei daher eine taugliche Entscheidungsgrundlage. Die Vernehmung der Klägerin sei nicht erforderlich gewesen, weil das Erstgericht mit Rücksicht auf seine Zusammensetzung nicht imstande gewesen wäre, aufgrund ihrer Aussage Feststellungen über die Art und die Auswirkungen der behaupteten Leiden zu treffen. Die Klägerin habe mehrfach Gelegenheit gehabt, den Sachverständigen unter Hinweis auf Behandlungsberichte, Arztbriefe usw. alle ihre Beschwerden und Leiden zu schildern. Das Erstgericht habe auch von der Vernehmung des die Klägerin behandelnden Arztes absehen dürfen, weil keiner der ärztlichen Sachverständigen sie für erforderlich gehalten habe. Es sei somit nicht zu sehen, worin Mängel des Verfahrens erster Instanz gelegen sein sollten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens mit dem Antrag, es im Sinn des Klagebegehrens abzuändern oder allenfalls das Urteil des Erstgerichtes aufzuheben und (die Rechtssache) zur neuerlichen Verhandlung und Verfahrensergänzung an das nunmehr zuständige Kreisgericht zurückzuverweisen.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Klägerin erblickt die Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens darin, daß weder vom Erstgericht noch vom Berufungsgericht ihre Vernehmung durchgeführt, daß sie nicht neuerlich vom Sachverständigen für innere Medizin untersucht, daß nicht ein ergänzendes neurologisches Gutachten eingeholt und daß der sie behandelnde Arzt nicht vernommen worden sei, obwohl sie die Aufnahme dieser Beweise im Verfahren erster Instanz beantragt habe. Sie machte das Unterbleiben der Aufnahme dieser Beweise schon in der Berufung als Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz geltend. Das Berufungsgericht sah die Mängel nicht als gegeben an, wobei es sich entgegen der in der Revision vertretenen Auffassung mit allen Mängeln beschäftigte. Seinen Ausführungen ist nämlich auch zu entnehmen, daß es die Einholung ergänzender Gutachten nicht für notwendig hielt, weil die Sachverständigen in den erstatteten Gutachten den gesamten Prozeßstoff berücksichtigt hätten. Da somit schon das Berufungsgericht zur Auffassung kam, daß die von der Klägerin behaupteten Mängel des Verfahrens erster Instanz nicht vorliegen, war zu prüfen, ob sie die Klägerin zum Gegenstand der Revision machen konnte.

Es ist hiezu seit der Entscheidung SZ 22/106 überwiegende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß Mängel des Verfahrens erster Instanz, deren Vorliegen vom Berufungsgericht verneint wurde, nicht mit Revision geltend gemacht werden können. Diese Rechtsansicht wurde zwar im Schrifttum wiederholt kritisiert (Fasching, Komm. IV 298 f und 306 f; derselbe, Zivilprozeßrecht Rz 1909; Novak, Entscheidungsbesprechung in JBl 1960, 565 f;

Schima, Gedanken zu einer Überholung der ZPO, JBl 1960, 321/324;

derselbe, Vortragsbericht in ÖJZ 1967, 604; Rechberger-Simotta, Zivilprozeßrecht3 Rz 721). Trotz und zum Teil unter Ablehnung dieser Kritik hielt der Oberste Gerichtshof auch in letzter Zeit, und zwar, soweit es überblickt werden kann, einhellig, an der wiedergegebenen Rechtsansicht fest (aus jüngerer Zeit etwa ÖBl. 1984, 109;

EFSlg 49.387 ua). Zur Begründung der Rechtsprechung wurde zuletzt wiederholt unter Hinweis auf JBl 1972, 569 ausgeführt, sie beruhe im wesentlichen auf der Überlegung, daß dem Obersten Gerichtshof doch nicht die Prüfung der vom Berufungsgericht verneinten, keine Nichtigkeit bewirkenden Mängel des Verfahrens erster Instanz obliegen könne, wenn ihm die Prüfung vom Berufungsgericht verneinter Nichtigkeitsgründe nach § 519 Abs 1 ZPO verwehrt sei (so etwa EFSlg 49.387, 3 Ob 569/85 und 6 Ob 513/87). Zu diesem durchschlagenden Argument wurde bisher im Schrifttum nicht Stellung genommen.

Der erkennende Senat sieht sich aus den dargelegten Gründen somit nicht veranlaßt, von dem oben angeführten Grundsatz abzugehen. Zu beachten ist aber, daß dieser Grundsatz nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes im Verfahren über die Nichtigerklärung oder die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe, in Streitigkeiten über die eheliche Abstammung und in Streitigkeiten über die Vaterschaft zu einem unehelichen Kind nicht anzuwenden ist und in dem vor der ZVNov. 1983 einzuhaltenden Verfahren zur Scheidung und Aufhebung einer Ehe und schließlich auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren, das nunmehr durch das im ASGG geregelte Verfahren in Arbeitsrechtssachen ersetzt wurde, nicht anzuwenden war. Das arbeitsgerichtliche Verfahren kann hier schon deshalb außer Betracht bleiben, weil dort die Ausnahme offenbar daraus abgeleitet wurde, daß Streitsachen, in denen der Streitwert den für das Verfahren in Bagatellsachen geltenden Betrag oder - seit der ZVNov. 1983 - den Betrag von S 2.000,-- überstieg, gemäß § 25 Abs 1 Z 3 ArbGG, von den Fällen der Entscheidung in nichtöffentlicher Sitzung abgesehen, vor dem Berufungsgericht von neuem zu verhandeln waren (vgl. Arb. 7982, 8126, 8145, 8250, 8558; JBl 1981, 387; Stanzl, Arbeitsgerichtliches Verfahren 143; s. aber die Kritik von Fasching, Komm. IV 307 f). Vergleichbare Verhältnisse bestanden im Berufungsverfahren nach dem ASVG und bestehen auch im Berufungsverfahren in Sozialrechtssachen nicht.

Bei den übrigen Verfahren wurde die Zulässigkeit der Geltendmachung von Mängeln des Verfahrens erster Instanz im wesentlichen damit begründet, daß für sie der Untersuchungsgrundsatz gelte (für das Eheverfahren etwa EvBl 1968/361, SZ 50/80 und EFSlg 41.772; anders im Ergebnis noch die Entscheidung SZ 22/106, die ein Eheverfahren betraf; für Streitigkeiten über die eheliche Abstammung EFSlg 46.697; für Streitigkeiten über die Vaterschaft zu einem unehelichen Kind etwa RZ 1980/48 sowie EFSlg 41.781 und 49.390). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Ansicht im Hinblick darauf tragfähig ist, daß der Untersuchungsgrundsatz unmittelbar nichts mit der Frage zu tun hat, wann ein Mangel des Berufungsverfahrens vorliegt (kritisch hiezu schon Fasching, Komm. IV 307), und das entscheidende Argument, nämlich die Unanfechtbarkeit von Beschlüssen des Berufungsgerichtes, womit das Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes verneint wird, auch für Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz gilt. Sie kann wohl nur für den Bereich der Stoffsammlungsmängel - soweit es sich nicht nur um Fragen der Beweiswürdigung handelt - und auch hier nur deshalb gerechtfertigt werden, weil die Berufung in den angeführten Verfahren Neuerungen enthalten darf (s. § 483 a Abs 2 ZPO und für die frühere Rechtslage SZ 25/331 ua; ferner § 6 Abs 1 Z 1 FamRAnglV und Art. V Z 5 UeKG) und daher in der Geltendmachung eines die Stoffsammlung betreffenden Mangels des Verfahrens erster Instanz ein Antrag an das Berufungsgericht auf Aufnahme der Beweise erblickt werden kann.

Prüft man dagegen die in Betracht kommenden Bestimmungen des ASGG, so zeigt sich, daß die Verhältnisse in Sozialrechtssachen in wesentlichen Punkten anders als in den angeführten Verfahrensarten sind. In all diesen Verfahrensarten hat der Untersuchungsgrundsatz zur Folge, daß Tatsachen und Beweisergebnisse auch ohne entsprechendes Vorbringen der Parteien berücksichtigt werden dürfen und auch müssen. Das ASGG enthält zwar die in Richtung Untersuchungsgrundsatz gehende Vorschrift, daß das Gericht sämtliche notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen aufzunehmen hat, wobei ein Widerspruch der Parteien unbeachtlich ist (§ 87 Abs 1), und ferner die Erweiterung der richterlichen Anleitungs- und Belehrungspflicht gegenüber einer Partei, die nicht Versicherungsträger ist und auch nicht durch eine qualifizierte Person vertreten wird (§ 39 Abs 2 Z 1), Damit bleibt das ASGG aber hinter der für die angeführten Verfahren geltenden Regelung zurück, weil dort vorgesehen ist bzw. für das Verfahren zur Scheidung und Aufhebung der Ehe vorgesehen war, daß das Gericht von Amts wegen dafür zu sorgen hat, daß alle für die Entscheidung maßgebenden tatsächlichen Umstände aufgeklärt werden. Es bedarf und bedurfte daher nicht des Umwegs, daß die Partei zu einem entsprechenden Vorbringen anzuleiten ist, weshalb die Erweiterung der Prozeßleitungspflicht höchstens eine Annäherung an den Untersuchungsgrundsatz bedeutet (so Fasching in Tomandl, System 3.ErgLfg. 728/12).

Ein weiterer Unterschied, der noch viel entscheidender ist, liegt darin, daß in Sozialrechtssachen Rechtsstreitigkeiten im Umfang des Klagebegehrens durch gerichtlichen Vergleich ganz oder teilweise beigelegt werden können (§ 75 Abs 3 ASGG) und daß gegenüber einer Partei, die Versicherungsträger ist oder als Versicherter von einer qualifizierten Person vertreten wird, die Vorschriften über zugestandene Tatsachen (§§ 266, 267 ZPO) anzuwenden sind (§ 87 Abs 3 ASGG). Dabei ist in dem hier zu erörternden Zusammenhang unerheblich, daß Tatsachengeständnisse gegenüber nicht qualifiziert vertretenen Versicherten keine bindende Wirkung haben, weil sie zumindest noch im Berufungsverfahren abgegeben werden können (JBl 1937/452; EvBl 1959/78; Fasching, Komm. III 245 und Zivilprozeßrecht Rz 847), dort die Parteien aber durch eine qualifizierte Person vertreten sein müssen (§ 27 Abs 1 und § 467 Z 5 ZPO iVm § 40 Abs 1 ASGG; vgl. auch Fasching in Tomandl, System 3.ErgLfg. 728/24).

Der Gesetzgeber nimmt daher in Sozialrechtssachen in Kauf, daß es im Fall eines Vergleiches oder eines Geständnisses zu einem Verfahrensergebnis kommt, das der Sach- und Rechtslage nicht oder nicht voll entspricht, und zwar auch zum Nachteil des Versicherten. Gerade ein solches Verfahrensergebnis soll aber in den angeführten familienrechtlichen Verfahren erkennbar ausgeschlossen werden. Ein Vergleich wäre als Ausfluß der Parteiendisposition zwar an sich auch in einem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahren denkbar, wird aber für die angeführten Verfahren zum Teil ausdrücklich, zum Teil schlüssig für unzulässig erklärt (so ausdrücklich § 460 Z 9 ZPO und Art. V Z 4 UeKG; vgl. für Streitigkeiten über die eheliche Abstammung § 6 Abs 1 Z 3 FamRAnglV und für das frühere Eheverfahren § 14 HD 1819, JGS Nr. 1595; und § 10 JMV RGBl. Nr. 91/1911). Die bindende Wirkung eines Geständnisses ist mit dem Untersuchungsgrundsatz überhaupt unvereinbar (Fasching, Komm. III 246; Holzhammer, Zivilprozeßrecht2 127); sie wurde überdies in den angeführten Gesetzesstellen für Streitigkeiten über die eheliche Abstammung und das frühere Eheverfahren ausdrücklich ausgeschlossen.

Zu all dem kommt noch der schon erwähnte Umstand, daß die Berufung in den Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz unbeschränkt Neuerungen enthalten darf, während in Sozialrechtssachen gemäß § 2 Abs 1 ASGG iVm § 482 Abs 2 ZPO das Neuerungsverbot mit den aus der zuletzt angeführten Gesetzesstelle sich ergebenden Ausnahmen gilt (vgl. Fasching in Tomandl, System, 3.ErgLfg. 728/23). Wegen all dieser wesentlichen Unterschiede besteht kein Anlaß, die Ausnahme, die in der Rechtsprechung bisher für die angeführten familienrechtlichen Verfahren gemacht wurde, auf Sozialrechtssachen auszudehnen. Es wurde schon gesagt, daß deshalb unerörtert bleiben kann, inwieweit diese Ausnahme für die anderen Verfahren gerechtfertigt ist. Es hat vielmehr für Sozialrechtssachen jedenfalls dabei zu verbleiben, daß ein Mangel des Verfahrens erster Instanz, dessen Vorliegen vom Berufungsgericht verneint wurde, mit Revision nicht mehr geltend gemacht werden kann.

Hier war allerdings zu beachten, daß sich das Verfahren des Erstgerichtes noch nach den - nunmehr durch § 96 Z 8 ASGG aufgehobenen - Bestimmungen der §§ 370 bis 399 ASVG über das Leistungsstreitverfahren erster Instanz richtete. Dies ändert aber am Ergebnis nichts, weil aus diesen Bestimmungen nicht abgeleitet werden kann, daß der Untersuchungsgrundsatz in einem nach dem ASVG geführten Verfahren in größerem Maß verwirklicht war, als er nunmehr in einem nach dem ASGG geführten Verfahren verwirklicht ist. Im besonderen galten zufolge § 396 Abs 1 ASVG auch die Bestimmungen der §§ 204 bis 206 ZPO über Vergleiche und der §§ 266 und 267 ZPO über zugestandene Tatsachen sowie zufolge § 403 Abs 1 ASVG die Bestimmung des § 482 Abs 2 ZPO über das Neuerungsverbot. Auf die Einschränkungen, die in der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien zum Vergleich gemacht wurden (SVSlg. 19.085, 22.375), muß nicht eingegangen werden, weil sie am Gesamtbild nichts ändern. Dem Obersten Gerichtshof ist es somit verwehrt, die Frage zu prüfen, ob die in der Revision behaupteten Mängel des Verfahrens erster Instanz vorliegen, weil dies schon vom Berufungsgericht verneint wurde. Der Revision, in der ausschließlich diese Mängel geltend gemacht werden, mußte daher der Erfolg versagt bleiben, zumal auf die dem Revisionsgericht vorgelegten Urkunden wegen des Neuerungsverbotes nicht Bedacht zu nehmen ist.

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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