OGH 10ObS146/93

OGH10ObS146/9328.10.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Hübner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Friederike Grasmuk (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Erwin L*****, Arbeitnehmer, *****, vertreten durch Dr. Heinrich Keller und Dr. Rainer Cuscoleca, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, 3100 St. Pölten, Dr. Karl Renner Promenade 14-16, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram und Dr. Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen S 5.688,90 s.A., infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Mai 1993, GZ 33 Rs 27/93-10, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 20. November 1992, GZ 4 Cgs 764/92-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Beide Parteien haben die Kosten ihrer Rechtsmittelschriften selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war bis zum Jahr 1986 selbständig erwerbstätig; er betrieb bis zu diesem Zeitpunkt eine Pizzeria in L*****. Aus dieser beruflichen Tätigkeit schuldet er der beklagten Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse Sozialversicherungsbeiträge von insgesamt S 23.783,60 einschließlich Verzugszinsen und Verwaltungskosten, worüber die Beklagte mit Rückstandsausweis vom 16.3.1987 erkannte. Auf diesem Rückstandsauweis wurde bestätigt, daß er einem die Vollstreckbarkeit hemmenden Rechtszug nicht unterliegt. In der Folge war der Kläger unselbständig berufstätig. Er wurde von seinem behandelnden Arzt vom 10.6. bis 12.8.1992 in den Krankenstand genommen. Aus dem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit gebührt dem Kläger für den Zeitraum 29.6. bis 12.8.1992 Krankengeld von insgesamt S 11.377,80.

Mit Bescheid vom 2.9.1992 sprach die Beklagte aus, daß auf die dem Kläger anläßlich seiner Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit gebührenden Geldleistungen die von ihm der Beklagten geschuldeten fälligen Beiträge bis zur Hälfte der zu erbringenden Geldleistungen aufgerechnet werden. Das Krankengeld von insgesamt S 11.377,80 werde daher nur zur Hälfte, nämlich mit S 5.688,90 an den Kläger ausgezahlt. Die andere Hälfte werde für geschuldete fällige Beiträge aufgerechnet und einbehalten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die rechtzeitige Klage mit dem Begehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger das gesamte ihm zustehende Krankengeld auszuzahlen und eine Nachzahlung von S 5.688,90 vorzunehmen, hilfsweise die Aufrechnung auf das nach der Exekutionsordnung geltende Existenzminimum zu beschränken und den sich ergebenden Differenzbetrag dem Kläger binnen 14 Tagen zu zahlen. Der Kläger brachte vor, durch die vorgenommene Aufrechnung würde sein Einkommen für den Zeitraum vom 29.6. bis 12.8.1972 monatlich nur etwa S 3.700,-- betragen, welcher Betrag deutlich unter dem derzeit geltenden Existenzminimum liege; außerdem treffe ihn eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung für drei Kinder. Gemäß dem § 290a Abs 1 Z 5 lit. f EO wäre das Krankengeld nur beschränkt pfändbar. Gegenüber unpfändbaren oder beschränkt pfändbaren Forderungen sei in der Regel auch keine Aufrechnung zulässig, weil dadurch das Pfändungsverbot umgangen werden könnte. Das Krankengeld sei ein Ersatz für Arbeitseinkommen. Seit der EO-Novelle 1991 sei eine Aufrechnung, die eine Reduzierung unter ein Existenzminimum von S 6.500,-- mit sich bringe, nicht mehr zulässig.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, daß die Aufrechnung nicht im Widerspruch zu gesetzlichen Bestimmungen stehe.

Das Erstgericht wies sowohl das Haupt-, als auch das Eventualbegehren ab. Es gelangte zur Auffassung, daß die von der Beklagten vorgenommene Aufrechnung mit den Bestimmungen des § 103 ASVG im Einklang sei. Die Einwände des Klägers dagegen seien nicht berechtigt. Die Pfändbarkeit des Krankengeldes als Leistung aus dem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit und die entsprechende Anwendung der Exekutionsordnung sei im § 98a ASVG begründet und stehe mit der im bekämpften Bescheid vorgenommenen Aufrechnung nach § 103 ASVG in keinem Zusammenhang. Die Einschränkung der Aufrechnung gegen den der Exekution entzogenen Teil der Forderung auf die im § 293 Abs 3 EO aufgezeigten Fälle habe nur dort Gültigkeit, wo nicht nach bereits bestehenden Vorschriften Abzüge ohne Beschränkung auf den der Exekution unterliegenden Teil gestattet seien; § 103 ASVG sei eine solche Sonderbestimmung. Aus dem Rückstandsausweis gehe hervor, daß die Forderung der Beklagten die Beitragszeiträume März 1985 bis Juli 1986 umfasse. Die Gegenforderung sei daher der Forderung des Klägers auf Krankengeld schon bei Beginn des Auszahlungszeitraumes im Juni 1962 aufrechenbar gegenübergestanden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es billigte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes und ergänzte, daß zufolge der im ASVG bestehenden Sonderregelung des § 103 die diesbezüglichen Grundsätze des ABGB (§§ 1431 bis 1435) nicht anwendbar seien (SV-Slg. 28.797). Dies gelte auch für die Bestimmung des § 1441 ABGB, auf welche sich der Kläger somit erfolglos berufe, abgesehen davon, daß diese hier nicht anzuwenden sei, weil die Aufrechnung nicht einen Dritten betreffe, sondern die Beklagte als unmittelbarer Gläubiger die Aufrechnung gegenüber dem Kläger vornehme. Auch der Einwand, daß im § 103 Abs 2 ASVG auf die Aufrechnungsbegrenzung mit Höhe des Exekutionsminimums nicht ausdrücklich Bedacht genommen worden sei, da im Zeitpunkt des Entstehens dieser Bestimmung auf Grund sehr niedriger Existenzminimumsgrenzen der jeweils zur Hälfte gekürzte Krankengeldanspruch immer über dieser Grenze gelegen sei, weshalb man die Regel des § 103 Abs 2 ASVG nicht mehr als Sonderbestimmung ansehen könne, sei nicht zielführend, weil in allen Novellen des ASVG und der EO die im vorliegenden Fall anzuwendenden Regelungen im wesentlichen nicht geändert worden seien.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die rechtzeitige, auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsstattgebung.

Die Beklagte beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Gemäß § 103 Abs 1 Z 1 ASVG dürfen die Versicherungsträger auf die von ihnen zu erbringenden Geldleistungen fällige Beiträge aufrechnen, die der Anspruchsberechtigte dem leistungspflichtigen Versicherungsträger schuldet, soweit das Recht auf Einforderung nicht verjährt ist. Diese Aufrechnung ist nach § 103 Abs 2 ASVG nur bis zur Hälfte der zu erbringenden Geldleistung zulässig. Im vorliegenden Fall ist lediglich strittig, inwieweit die Beklagte zur Aufrechnung gegen die an sich unbestrittenen Ansprüche des Klägers auf Krankengeld nach dieser Gesetzesstelle berechtigt ist. Dabei besteht kein Zweifel, daß Rechtsstreitigkeiten über die Zulässigkeit der Aufrechnung auf die von den Versicherungsträgern zu erbringenden Leistungen Sozialrechtssachen gemäß § 65 Abs 1 Z 1 ASGG sind (SSV-NF 3/66 = SZ 62/96; SSV-NF 5/70).

Der Kläger wendet zunächst ein, daß es sich bei den im § 103 Abs 1 Z 1 ASVG genannten "geschuldeten fälligen Beiträgen" nur um solche Beiträge handeln könne, die der Anspruchsberechtigte dem leistungspflichtigen Versicherungsträger auf Grund des ASVG schulde. Die hier streitgegenständliche Beitragsschuld resultiere jedoch aus einer selbständigen Erwerbstätigkeit und stelle sich somit nicht als Beitragsschuld nach dem ASVG dar. Dazu verweist der Kläger auf die Entscheidung SSV-NF 4/162, der jedoch ein anderer Sachverhalt zugrundelag. Dort war der Kläger nicht als Beitragsschuldner nach dem ASVG, sondern auf Grund eines privatrechtlichen Bürgschaftsvertrages mit dem Krankenversicherungsträger zur Befriedigung der Bürgschaftsschuld verpflichtet und in diesem Sinn auch rechtskräftig verurteilt worden. Deshalb durfte der beklagte Versicherungsträger vom Kläger auf Grund dieser rechtskräftigen Urteile zu leistenden Beträge nicht nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG auf die von ihm dem Kläger zu erbringenden Pensionsnachzahlungen aufrechnen. Wenngleich demnach die Aufrechnung von Geldleistungen des Versicherungsträgers mit Beitragsschulden gegenüber dem Bürgen nicht zulässig ist, so läßt sich hieraus für den Rechtsstandpunkt des Klägers nichts gewinnen. Auf Grund des keinen die Vollstreckbarkeit hemmenden Rechtszug unterliegenden Rückstandsausweises der Beklagten ist davon auszugehen, daß es sich bei den dort genannten fälligen Beiträgen um solche handelt, die der Kläger dem leistungspflichtigen Versicherungsträger, also der Beklagten nach sozialversicherungsrechtlichen (und nicht nach allgemein bürgerlich rechtlichen) Vorschriften schuldet, sei es als Versicherter oder als Arbeitgeber. Gefordert wird bloß, daß Leistungsträger und Leistungsberechtigter gegeneinander einen Anspruch auf Geldleistungen haben, diese Ansprüche also gegenseitig sind, das heißt jeder der beiden zugleich Gläubiger und Schuldner des anderen ist; mit Beitragsforderungen eines anderen Versicherungsträgers kann nicht aufgerechnet werden (vgl Seewald im Kasseler Komm. RZ 9 zu § 51 SGB)). Für die Eintreibung nicht rechtzeitig entrichteter Beiträge an die Sozialversicherungsträger gewährt § 64 Abs 1 ASVG (wie auch § 37 GSVG) die ausdrückliche Möglichkeit der Einbringung im Verwaltungsweg (politische Exekution). Wahlweise steht es dem Sozialversicherungsträger offen, entweder direkte Eintreibung bei Gericht zu beantragen oder über die Vollstreckungsbehörde die Eintreibung der zuständigen Beiträge zu veranlassen. Exekutionstitel iS des § 1 EO sind vom Sozialversicherungsträger ausgefertigte Rückstandsausweise, deren Inhalt § 64 Abs 2 ASVG umschreibt. Rückstandsausweise bilden öffentliche Urkunden (und daher keine anfechtbaren Bescheide) über den Stand der offenen Zahlungsverbindlichkeiten eines Beitragsschuldners (siehe Krejci-Marhold in Tomandl, SV-System 5. ErgLfg. 90; Oberndorfer in Tomandl, SV-System 6. ErgLfg. 679 jeweils mwN). Lediglich Einwendungen gegen die Vollstreckung oder ein Antrag auf Feststellung der Beitragspflicht gemäß § 410 Abs 1 Z 7 ASVG verpflichtet den Sozialversicherungsträger, über die Beitragsschuld bescheidförmig abzusprechen (Oberndorfer aaO 680 bei FN 7). Angelegenheiten der Beiträge der Versicherten und ihrer Dienstgeber sind aber keine Leistungssachen, sondern Verwaltungssachen nach § 355 Z 3 ASVG, sodaß hiefür der Rechtsweg unzulässig ist. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß es sich bei den aufgerechneten Beiträgen um solche iS des § 103 Abs 1 Z 1 ASVG handelt, zu deren Geltendmachung die Beklagte berechtigt ist (§ 58 Abs 5 ASVG).

Weiters hält der Kläger an seiner Rechtsansicht fest, durch die Novellierung des Exekutionsrechtes, mit der erstmals dem Gläubiger Zugriff auf Einkünfte von Sozialversicherungsträgern gewährt würde, habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, daß er die Beschränkungen der Exekution im Interesse der Gewährleistung eines Mindesteinkommens auch im Sozialversicherungsbereich angewendet wissen wolle. Auch dieser Ansicht ist nicht zu folgen.

§ 293 Abs 3 EO schränkt die Aufrechnung gegen den der Exekution entzogenen Teil der Forderung auf Ausnahmsfälle ein, gilt aber nach dem ausdrücklichen Wortlaut nicht in den Fällen, in denen nach bereits bestehenden Vorschriften Abzüge ohne Beschränkung auf den der Exekution unterliegenden Teil gestattet sind. Es ist richtig, daß die Exekutionsordnung regelt, inwieweit Leistungsansprüche nach dem ASVG pfändbar sind (§ 98a ASVG idF EO-Novelle 1991). § 103 Abs 2 ASVG schränkt die Aufrechnung bis zur Hälfte der zu erbringenden Geldleistung ein (ebenso § 71 Abs 2 GSVG, § 67 Abs 2 BSVG, § 44 Abs 2 B-KUVG, § 34 Abs 2 NVG, ähnlich § 25 Abs 3 AlVG). Damit normiert der Gesetzgeber eindeutig eine Obergrenze, ohne aber gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen, wie hoch die dem Anspruchsberechtigten zu verbleibende Geldleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes sein soll (anders etwa die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland, wo nach § 51 Abs 2 SGB I der zuständige Leistungsträger mit Beitragsansprüchen gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen kann, soweit der Leistungsberechtigte dadurch nicht hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes über die Hilfe zum Lebensunterhalt wird).

Der erkennende Senat teilt die von den Vorinstanzen vertretene Auffassung, daß die Aufrechnungsbestimmungen der Sozialversicherungsgesetze, hier also § 103 ASVG, als dem eigentlichen Exekutionsrecht vorrangige spezielle Normen zu betrachten sind und daher eine Aufrechnung in den pfändungsfreien Teil rechtlich zulässig ist. Es bleibt daher allein dem Ermessen der Sozialversicherungsträger überlassen, die Höhe der Abzugsrate auf relativ niedrigem Niveau festzulegen, wobei im übrigen darauf Bedacht genommen werden muß, daß die Versicherungsträger nur mittels der - im Rahmen der Riskengemeinschaft - geleisteten Beiträge ihren Leistungsverpflichtungen nachkommen können (ebenso BMAS 21.891/200-1/92 vom 22.12.1992, ARD 4434/12/93). Daß das exekutionsrechtlich festgelegte allgemeine Existenzminimum nicht eine absolute Untergrenze darstellt, ergibt sich schon daraus, daß bei einem Bruttopensionsbezug in diesem Ausmaß jedenfalls noch ein Abzug des Krankenversicherungsbeitrages vorzunehmen ist. Es gibt auch eine nicht unbedeutende Fallgruppe, bei der das exekutionsrechtliche Existenzminimum um 25 % unter der allgemeinen Grenze liegt; hiebei handelt es sich um Leistungsbezieher, gegen die ein Exekutionsverfahren im Zusammenhang mit Unterhaltsrückständen geführt wird. Zusammenfassend ergibt sich daher, daß die Pfändungsbeschränkungen der Exekutionsordnung (§§ 290 ff) auch in ihrer durch die EO-Novelle 1991 geänderten Fassung einer Aufrechnung bis zur Hälfte der zu erbringenden Geldleistung im Sinne des § 103 Abs 2 ASVG nicht entgegenstehen.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Der Beklagte Versicherungsträger hat keinen Kostenersatzanspruch (vgl. SSV-NF 4/141).

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