OGH 10ObS142/95

OGH10ObS142/9520.7.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Pipin Henzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Martin Pohnitzer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hannelore S*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Alfred Ebner, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28.März 1995, GZ 12 Rs 13/95-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 7.September 1994, GZ 18 Cgs 197/93s-20, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 23.9.1993 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten den Antrag der Klägerin vom 30.4.1993 auf Berufsunfähigkeitspension mangels Berufsunfähigkeit ab.

Dieser Bescheid ist durch die innerhalb von drei Monaten ab seiner

Zustellung erhobene (§ 67 Abs 2 ASGG) Klage zur Gänze außer Kraft

getreten (§ 71 Abs 1 leg cit). Deren iS des § 82 Abs 1 bis 4

ASGG hinreichend bestimmtes Begehren richtet sich auf eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.5.1993. Es stützt sich darauf, daß die Klägerin wegen vieler, in der Klage im einzelnen aufgezählter Leiden keiner geregelten Tätigkeit mehr nachgehen könne.

Die Beklagte wendete ein, daß die Klägerin ihren zuletzt ausgeübten Beruf als Verkäuferin oder eine ähnliche zumutbare Beschäftigung ausüben könne, und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Ab der (ersten) Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom

8.6.1994 war die Klägerin durch den Landesobmann-Stellvertreter des

Zentralverbandes der Pensionisten Österreichs für das Bundesland

Salzburg, einen Juristen, vertreten, dem sie ua Prozeßvollmacht

erteilte. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine zur Vertretung

vor den Gerichten erster und zweiter Instanz qualifizierte Person iS

des § 40 Abs 1 ASGG, sondern um eine andere geeignete Person iS

des Abs 2 Z 4 leg cit.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es traf folgende wesentliche Tatsachenfeststellungen:

Die am 22.5.1942 geborene Klägerin war nach der Pflichtschule zunächst als angelernte Kraft im Gastgewerbe, dann als Arbeiterin erwerbstätig. Von 1966 bis 1980 war sie selbständige Gastwirtin. Danach war sie Kassierin bzw Verkäuferin bei der Firma A*****. Dieses Dienstverhältnis wurde zum Jahresende 1993 gekündigt.

Es bestehen folgende Leidenszustände: degenerative Weichteilveränderungen im Bereich des rechten Schultergelenks mit leichter Einschränkung der Beweglichkeit, wovon hauptsächlich das seitliche Armheben betroffen ist; mittelgradiger Hüftgelenksverschleiß beidseits; cervikale und lumbale Neuralgie (Schmerzen seitens der Hals- und Lendenwirbelsäule) bei Bandscheibenverschleiß in der unteren Lendenwirbelsäule mit der Möglichkeit schmerzhafter Funktionseinschränkungen bei inadäquater Belastung; leicht- bis mittelgradiger Kniegelenksverschleiß beidseits; mäßiggradiger Spreizfuß mit Vorfußbelastungsschmerzen beidseits mit Hallux valgus und Arthrose im Großzehengrundgelenk rechts stärker als links; Carpaltunnelsyndrom links, Zustand nach im Juni 1993 operiertem Carpaltunnelsyndrom rechts; medikamentös gut eingestellter Bluthochdruck ohne erkennbare Rückwirkungen auf das Herz; medikamentös und diätetisch gut behandelbarer erhöhter Harnsäurespiegel; leichter Leberparenchymschaden; Zustand nach Krampfadernoperation mit beiderseitigem Rezidiv; bei Nichtdurchführung einer entsprechenden Kompressionstherapie sind ein Schwere- und Spannungsgefühl und Schwellungen in den Beinen möglich; leicht- bis mittelgradige depressive Episode, durch die die psychische Belastbarkeit entsprechend reduziert ist; infolge des Übergewichtes ist die allgemeine Wendigkeit herabgesetzt.

Mit diesem körperlichen und geistigen Zustand kann die Klägerin während eines achtstündigen Arbeitstages mit den üblichen Pausen leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen leisten. Nach etwa 45 Minuten ununterbrochener Tätigkeit im Stehen oder Sitzen muß sie die Arbeitshaltung für etwa zehn Minuten wechseln können. Die Arbeiten können im Freien und in geschlossenen Räumen geleistet werden, jedoch nicht in Nässe, Kälte und Feuchtigkeit. Häufige Überkopfarbeiten und verstärkte Hebe- und Tragebelastung des rechten Armes, häufiges Bücken, häufiges Heben und Tragen und langdauerndes Tragen sind zu vermeiden, wobei die Obergrenze der Hebe- und Tragebelastung 10 kg beträgt. Arbeiten, die eine ungestörte Feinmotorik beider Hände erfordern, Arbeiten unter vermehrter Streßbelastung und erhöhtem Zeitdruck sowie Teilbewegungen, wie langdauerndes Drehen, Kurbeldrehen, Drücken usw, sind nicht möglich. Der Anmarschweg zum Arbeitsplatz ist nicht beschränkt.

Der nicht wesentlich besserungsfähige festgestellte Zustand besteht etwa seit Anfang 1994. Vorher (ungefähr ab April 1993) dürfte vor allem der psychische Zustand schlechter gewesen sein.

In der rechtlichen Beurteilung ging das Erstgericht davon aus, daß die Tätigkeit der Klägerin als Verkäuferin in die Beschäftigungsgruppe III der maßgeblichen Kollektivverträge einzustufen sei. Deshalb könne sie im Rahmen dieser, aber auch der nächstniedrigeren Beschäftigungsgruppe verwiesen werden. Mit ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten könne sie zumindest einzelne in der letztgenannten Gruppe angeführte einfache Tätigkeiten im Büro- und Rechnungswesen ausführen, zB in der Registratur und Kartei, einer Fakturistin oder einer Hilfskraft in der Buchhaltung, Lohn- oder Gehaltsabrechnung und Statistik, aber auch Ablagetätigkeiten. Es sei offenkundig, daß diese Tätigkeiten das Leistungskalkül der Klägerin nicht überschreiten, daß dafür eine kurze Einschulungszeit genüge und Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in entsprechender Anzahl vorhanden seien. Die Klägerin könnte auch als Parkgaragenkassierin oder Telefonistin tätig sein. Wegen dieser Verweisungsmöglichkeiten gelte sie nicht als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.

Es verneinte die geltend gemachte Aktenwidrigkeit sowie die behaupteten Verfahrensmängel und erachtete die erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen als unbedenklich und vollständig. Zur Rechtsrüge führte es im wesentlichen aus, unter Berücksichtigung der Einstufungskriterien des Kollektivvertrages für die Handelsangestellten Österreichs und des Umstandes, daß es sich bei der von der Klägerin angegebenen Tätigkeit als Verkäuferin bzw Leiterin einer Feinkostabteilung und Fleischhauerin in einem Selbstbedienungsladen um ein allgemein bekanntes Berufsbild handle, sei diese Tätigkeit in die Beschäftigungsgruppe 3 dieses Kollektivvertrages einzuordnen. Die Klägerin könne jedenfalls noch auf die Tätigkeiten einer Angestellten im Posteinlauf- und -auslauf oder auf Kanzleihilfstätigkeiten verwiesen werden. Es sei allgemein bekannt, daß es sich dabei um körperlich leichte Arbeiten handle, die nicht mit besonderem Zeitdruck, vermehrter Streßbelastung, ins Gewicht fallenden Überkopfarbeiten und häufigem Bücken verbunden sind. Auch der geforderte Haltungswechsel sei möglich. Da die Klägerin noch imstande sei, diese Verweisungstätigkeiten ohne jede Einschränkung auszuüben, könne sie dadurch das Entgelt erwerben, das jeder andere dafür voll geeignete Arbeitnehmer regelmäßig dadurch zu erzielen pflege. Wegen dieser Verweisungsmöglichkeiten gelte die Klägerin nicht als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG.

In der unbeantwortet gebliebenen Revision macht die Klägerin Mangelhaftigkeit, Aktenwidrigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch bei Fehlen der

Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig; sie ist auch

berechtigt.

Die geltend gemachten Aktenwidrigkeiten (§ 503 Z 3 ZPO) liegen

allerdings nicht vor. Dieser Revisionsgrund wäre nur gegeben, "wenn dem Urteile des Berufungsgerichtes in einem wesentlichen Punkte eine tatsächliche Voraussetzung zugrunde gelegt erschiene, welche mit den Prozeßakten erster oder zweiter Instanz im Widerspruche steht".

Aktenwidrigkeit besteht in einem Widerspruch zwischen dem Akteninhalt

und der darauf beruhenden wesentlichen Tatsachenfeststellung im Urteil, der nicht das Ergebnis eines richterlichen Werturteils ist (zB Fasching, ZPR2 Rz 1771). Die Revisionswerberin behauptet jedoch keine Widersprüche dieser Art, sondern dem Berufungsgericht unterlaufene Fehler bei der Behandlung in der Berufung behaupteter Mängel des Verfahrens erster Instanz. Ob derartige Mängel vom Berufungsgericht zutreffend verneint wurden, ist jedoch vom Revisionsgericht auch in Sozialrechtssachen nicht zu prüfen (stRsp, zB SSV-NF 7/74 mwN).

Das angefochtene Urteil und das damit bestätigte Urteil des Gerichtes erster Instanz leiden jedoch an wesentlichen Feststellungsmängeln, die zu ihrer Aufhebung führen:

Nach § 273 Abs 1 ASVG gilt der (die) Versicherte als

berufsunfähig, dessen (deren) Arbeitsfähigkeit infolge seines (ihres)

körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte

derjenigen eines (einer) körperlich und geistig gesunden Versicherten

von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.

Nach stRsp des erkennenden Senates handelt es sich bei der Pensionsversicherung der Angestellten um eine Berufs(gruppen)versicherung, deren Leistungen einsetzen, wenn der (die) Versicherte infolge seines (ihres) körperlichen und/oder geistigen Zustandes einen Beruf seiner (ihrer) Berufsgruppe nicht mehr ausüben kann. Dabei ist von dem Angestelltenberuf auszugehe, den der (die) Versicherte zuletzt ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimmt das Verweisungsfeld. Darunter sind alle Berufe zu verstehen, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sei eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (SSV-NF 2/73 mwN uva).

Im vorliegenden Fall steht noch nicht fest, welche Tätigkeit die Klägerin zuletzt ausgeübt hat und in welcher Beschäftigungsgruppe sie eingestuft war. Wäre sie zuletzt als Kassierin tätig gewesen, und zwar als Ladenkassierin in einem Selbstbedienungsladen, dann wäre sie in die Beschäftigungsgruppe 3 des Kollektivvertrages für Handelsangestellte einzustufen. Wäre sie zuletzt als Verkäuferin tätig gewesen, dann wäre sie der Beschäftigungsgruppe 2 zuzuzählen, fall sie nicht, zB als Verkäuferin mit besonderen Fähigkeiten, in die Beschäftigungsgruppe 3 einzustufen wäre.

Selbst wenn die Klägerin zuletzt der Beschäftigungsgruppe 3 angehört

hätte, würde eine Verweisung auf Angestelltentätigkeiten der

nächstniedrigeren Beschäftigungsgruppe 2 iS der stRsp des

erkennenden Senates keinen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten

(SSV-NF 4/97; 5/34; 7/25 uva). Hingegen dürfte sie nicht auf solche

Tätigkeiten verwiesen werden, durch deren Ausübung sie den

Berufsschutz des § 273 Abs 1 ASVG verlieren würde, also nicht auf

Hilfsarbeiterinnentätigkeiten. Eine Verweisung auf die Tätigkeiten

einer Bürobotin, einer Amtsgehilfin und einer Botengängerin wäre

daher jedenfalls unzulässig, weil es sich dabei um keine

Angestellten-, sondern um einfache Arbeitertätigkeiten handelt. Dies

gilt auch für die vom Berufungsgericht erwähnten

"Kanzleihilfstätigkeiten", wenn diese keine "Kanzleiarbeiten" iS des

§ 1 Abs 1, § 2 Abs 1 und § 3 AngG wären (SSV-NF 3/123 ua).

Hingegen wäre eine Verweisung auf einfache Angestelltentätigkeiten, wie sie im Beschäftigungsgruppenschema des Kollektivvertrages unter der Beschäftigungsgruppe 2 beispielsweise aufgezählt sind, grundsätzlich zulässig (SSV-NF 7/44 mwN ua).

Ob die Klägerin noch Angestelltentätigkeiten wenigstens der Beschäftigungsgruppe 2 ausüben kann, kann jedoch erst dann verläßlich beurteilt werden, wenn ihre Arbeitsfähigkeit und die Anforderungen in diesen Tätigkeiten ausreichend erörtert und festgestellt sind.

Insbesondere wird ein genaues Leistungskalkül für die Zeit zwischen dem Stichtag und dem 1.1.1994 zu erstellen sein. Für die Zeit ab 1.1.1994 wird - abgesehen von einer zeitlichen Einschränkung der

mittelschweren körperlichen Arbeiten - zu klären sein, was unter

"häufigen(m)" Überkopfarbeiten, Bücken, Heben und Tragen, "landauernder" Tragehaltung, "verstärkter" Hebe- und Tragebelastung, Arbeiten, "die eine ungestörte Feinmotorik beider Hände erfordern", Arbeiten "unter vermehrter Streßbelastung", Arbeiten "unter erhöhtem Zeitdruck" und "Teilbewegungen wie langdauerndes Drehen, Kurbeldrehen, Drücken usw" zu verstehen ist.

Aber auch die Anforderungen in den grundsätzlich in Frage kommenden Angestelltentätigkeiten der Beschäftigungsgruppen 3 und 2 des Kollektivvertrages sind im einzelnen so genau festzustellen, daß beurteilt werden kann, ob die Arbeitsfähigkeit der Klägerin für diese Tätigkeiten ausreicht.

Wegen dieser bei Erledigung der Rechtsrüge wahrzunehmenden wesentlichen Feststellungsmängel sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Sozialrechtssache ist an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückzuverweisen.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des

Berufungsverfahrens und der Revision beruht auf dem gemäß § 2 Abs

1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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