European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00140.22V.0117.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie – einschließlich des in Rechtskraft erwachsenen abweisenden Teils – insgesamt lauten:
Das Klagebegehren, es werde festgestellt, dass die von der klagenden Partei im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate iSd § 4 Abs 3 APG und § 607 Abs 14 ASVG iVm der Schwerarbeitsverordnung sind, wird abgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Feststellung von Schwerarbeitszeiten nach § 247 Abs 2 ASVG.
[2] Der * 1960 geborene Kläger war zwischen 1. Juli 2001 und 31. Oktober 2017 als Friedhofsbetreuer beschäftigt, wobei er zum Teil auch Totengräbertätigkeiten wie beispielsweise händisches Ausheben von Gräbern durchführte. Seine Netto-Arbeitszeit betrug an fünf Tagen der Woche (Montag bis Freitag) grundsätzlich 7,5 Stunden. An Tagen, an denen Begräbnisse stattfanden, endete der Arbeitstag des Klägers aber nicht schon um 15:30 Uhr, sondern – je nach Dauer des Begräbnisses – erst zwischen 17:00 Uhr und 18:30 Uhr. Zwei Wochen im Monat hatte der Kläger einen sogenannten Bereitschaftsdienst, während dessen er auch nach Dienstende sowie an Samstagen, Sonn- und Feiertagen anfallende Arbeiten verrichten musste.
[3] Mit Rücksicht auf seine Aufgabenstellungen verbrauchte der Kläger bei acht Arbeitsstunden und nach Abzug von Unproduktivzeiten oder Leerzeiten durchschnittlich 1.893 Kilokalorien täglich. Das ergibt bei einer Nettoarbeitszeit von 7,5 Stunden 1.775 Kilokalorien pro Tag. Den Wert von 2.000 Kilokalorien würde der Kläger bei einer täglichen Nettoarbeitszeit von 8,5 Stunden erreichen.
[4] Im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 hat der Kläger (nur) in 22 Monaten, nämlich in den Monaten Jänner und November 2002, Jänner, Februar, Juni, Oktober und Dezember 2003, Jänner und September 2005, Jänner, Februar und Oktober 2007, Oktober 2008, Jänner, Juni und Dezember 2009, November 2011, Juni 2013, Februar und Mai 2015 sowie Februar und Dezember 2016 an mindestens 15 Tagen im Monat (8,5 Nettoarbeitsstunden gearbeitet und) mindestens 2.000 Kilokalorien verbraucht.
[5] Mit Bescheid vom 23. Jänner 2018 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass der Kläger zum Feststellungszeitpunkt 1. Jänner 2018 insgesamt 473 Beitragsmonate der Pflichtversicherungs‑Erwerbstätigkeit und 25 Ersatzmonate, insgesamt also 498 Versicherungs-monate erworben habe, lehnte aber die „Anerkennung“ von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 ab.
[6] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die von ihm im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate seien.
[7] Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens, weil der Kläger keine Tätigkeiten verrichtet habe, bei denen zumindest 2.000 Arbeitskilokalorien verbraucht worden seien.
[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Feststellung von Schwerarbeitszeiten vom 1. 1. 1998 bis einschließlich „31.“ 6. 2001 zurück. Für den Zeitraum 1. 7. 2001 bis 31. 10. 2017 stellte es fest, dass von den vom Kläger in diesem Zeitraum erworbenen Beitragsmonaten der Pflichtversicherung die Monate Jänner und November 2002, Jänner, Februar, Juni, Oktober und Dezember 2003, Jänner und September 2005, Jänner, Februar und Oktober 2007, Oktober 2008, Jänner, Juni und Dezember 2009, November 2011, Juni 2013, Februar und Mai 2015 sowie Februar und Dezember 2016 (insgesamt 22 Monate) als Schwerarbeitsmonate iSd § 4 Abs 3 APG und § 607 Abs 14 ASVG iVm § 1 Abs 1 Z 4 der Schwerarbeitsverordnung zu qualifizieren sind. Das darüber hinausgehende Feststellungsbegehren wies es ab.
[9] Das Berufungsgericht wies die gegen den klagestattgebenden Teil des Urteils gerichtete Berufung der Beklagten zunächst mangels Beschwer zurück.
[10] Der Oberste Gerichtshof gab dem dagegen von der Beklagten erhobenen Rekurs Folge, hob diesen Beschluss auf und verwies die Rechtssache zur Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurück, weil eine Beschwer aufgrund der Bindung des Versicherungsträgers an die festgestellten Schwerarbeitszeiten auch dann anzunehmen ist, wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage keine Leistungsansprüche des Versicherten begründen können (10 ObS 38/22v).
[11] Im fortgesetzten Berufungsverfahren gab das Berufungsgericht der Berufung der Beklagten nicht Folge. Die Überlegungen des Obersten Gerichtshofs zur Beschwer der Beklagten würden sinngemäß auch für die Frage des Feststellungsinteresses des Klägers gelten. Ausgehend davon habe der Kläger daher ein rechtliches Interesse daran, dass die von ihm erworbenen Schwerarbeitsmonate festgestellt werden. Im Übrigen habe das Erstgericht die Klage auch deshalb zu Recht nicht mangels Feststellungsinteresses abgewiesen, weil dem Kläger sonst die Möglichkeit genommen würde, die Anzahl der festgestellten Schwerarbeitsmonate zu bekämpfen.
[12] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag, die Klage zur Gänze abzuweisen. Hilfsweise stellt sie auch Aufhebungsanträge.
[13] In der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt der Kläger, der Revision keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[14] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
[15] 1. Ein Anspruch auf Schwerarbeitspension besteht gemäß § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG dann, wenn der Versicherte in den letzten 240 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Beitragsmonate aufgrund von Tätigkeiten, die unter körperlich oder psychisch besonders belastenden Bedingungen erbracht wurden, erworben hat (Schwerarbeitszeiten).
[16] Nach § 247 Abs 2 ASVG hat der zuständige Pensionsversicherungsträger die Schwerarbeitszeiten iSd § 607 Abs 14 ASVG und des § 4 Abs 3 APG festzustellen, wenn der Versicherte dies frühestens zehn Jahre vor Vollendung des Anfallsalters nach § 607 Abs 12 ASVG oder frühestens zehn Jahre vor Vollendung des frühestmöglichen Anfallsalters nach § 4 Abs 3 APG (für männliche Versicherte jeweils das 60. Lebensjahr) beantragt und aufgrund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen nach § 607 Abs 14 ASVG oder nach § 4 Abs 3 APG vor Erreichen des Regelpensionsalters (hier also vor Vollendung des 65. Lebensjahres [§ 253 ASVG]) erfüllt werden.
[17] 2. Der Oberste Gerichtshof hat sich erst kürzlich in den Entscheidungen 10 ObS 113/22y und 10 ObS 104/22z mit der Feststellung von Versicherungszeiten nach § 247 Abs 2 ASVG und den damit in Zusammenhang stehenden, auch hier aufgeworfenen Fragen ausführlich befasst und sie zusammengefasst wie folgt beantwortet:
[18] 2.1. Wird ein Antrag nach § 247 ASVG gestellt, wird das (Leistungs‑)Verfahren insofern zweigeteilt, als die Feststellung der Versicherungszeiten vorgezogen wird: Die bis zum (durch die Antragstellung ausgelösten) Stichtag erworbenen Zeiten werden – abgesehen von einer Änderung der maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen – bindend festgestellt und sind ohne weitere Prüfung dem künftigen Leistungsverfahren zugrundezulegen (RS0084976). Dadurch soll dem Versicherten Klarheit verschafft werden, welche Zeiten der Prüfung eines Pensionsanspruchs zugrunde zu legen sind, und ihm eine Grundlage für die Entscheidung gegeben werden, ob er einen Pensionsantrag stellt oder ob er im Arbeitsleben bleibt und weitere Zeiten erwirbt.
[19] 2.2. Der Feststellungsanspruch ist jedoch an zwei Voraussetzungen geknüpft: Er kann erst zehn Jahre vor dem frühestmöglichen Anfallsalter für die Schwerarbeitspension geltend gemacht werden und setzt überdies voraus, dass aufgrund des bisherigen Versicherungsverlaufs anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen für eine Schwerarbeitspension erfüllt werden. Dabei handelt es sich um materiell‑rechtliche Voraussetzungen des Feststellungsanspruchs, deren Fehlen nicht zur Zurückweisung, sondern zur Abweisung des Feststellungsbegehrens führt. Kann daher bis zum Erreichen des Regelpensionsalters ein Anspruch auf Schwerarbeitspension nicht mehr entstehen, etwa weil die dafür erforderlichen Versicherungs- oder Schwerarbeitsmonate auch unter günstigsten Bedingungen nicht mehr erworben werden können, führt das zur Abweisung der Klage mangels Feststellungsinteresses.
[20] 2.3. Vom Feststellungsinteresse des Versicherten ist die Beschwer des Versicherungsträgers zu unterscheiden. Werden im sozialgerichtlichen Verfahren Schwerarbeitszeiten entgegen § 247 Abs 2 ASVG festgestellt, weil nach geltendem Recht ein Anspruch auf Schwerarbeitspension nicht mehr erworben werden kann, ist der Versicherungsträger im Fall der Rechtskraft daran gebunden. Das könnte im Fall einer Änderung der Rechtslage zu Leistungsansprüchen in der Zukunft führen, sodass die (in dieser Konstellation nicht vorgesehene) Feststellung von Schwerarbeitszeiten den Versicherungsträger beschwert und ihn zur Anfechtung berechtigt. Davon ist die Frage zu trennen, ob die Entscheidung auch inhaltlich richtig ist, mit anderen Worten, ob das (besondere) Feststellungsinteresse iSd § 247 Abs 2 ASVG zu Recht bejaht wurde (RS0084976 [T8]).
[21] 3. Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze hält die Entscheidung der Vorinstanzen einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
[22] 3.1. Der Kläger erreicht das Regelpensionsalter am * 2025. Berücksichtigt man die festgestellten 22 Schwerarbeitsmonate bis Ende 2017, ist es ausgeschlossen, dass er bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres die für eine Schwerarbeitspension nach § 607 Abs 14 ASVG oder § 4 Abs 3 APG erforderlichen 120 Schwerarbeitsmonate erwirbt. Eine Feststellung von Schwerarbeitszeiten iSd § 247 Abs 2 ASVG kommt daher nicht in Betracht, und zwar auch nicht in Bezug auf die unstrittig vorliegenden 22 Schwerarbeitsmonate zwischen 2001 und 2017.
[23] 3.2. Soweit das Berufungsgericht davon ausgeht, in der Entscheidung 10 ObS 38/22v sei ihm die Rechtsansicht überbunden worden, dass das Feststellungsinteresse des § 247 Abs 2 ASVG vorliege, beruht dies auf einem Missverständnis. Im Rahmen der genannten Entscheidung war – ebenso wie in den Entscheidungen zu 10 ObS 12/22w und 10 ObS 52/22b – nur zu prüfen, ob die Beklagte dadurch beschwert ist, dass die bisherigen Schwerarbeitszeiten festgestellt wurden, obwohl die Voraussetzungen des § 247 Abs 2 ASVG nicht erfüllt waren (vgl oben 2.3.). Aussagen zum (besonderen) Feststellungsinteresse wurden darin nicht getroffen.
[24] 3.3. Auch die Befürchtung des Berufungsgerichts, die Abweisung der Klage könnte unter Umständen eine für den Kläger ungünstige Bindungswirkung entfalten (weshalb ihm eine Anfechtungsmöglichkeit eröffnet werden müsse), teilt der Oberste Gerichtshof nicht. Denn mitder Abweisung des Klagebegehrens ist nicht die Feststellung verbunden, dass (gar) keine Schwerarbeitszeiten vorliegen. Das Klagebegehren ist bloß mangels Bestehens des Feststellungsanspruchs nicht berechtigt, weil es abstrakt betrachtet nicht mehr möglich ist, dass die Voraussetzungen für eine Schwerarbeitspension vor Erreichung des Regelpensionsalters erfüllt werden. Die Frage, ob und wie viele Schwerarbeitsmonate im betreffenden Zeitraum vorliegen, wird dabei nur als Vorfrage – und nicht als Hauptfrage – geprüft, sodass die dazu getroffenen Feststellungen für die Zukunft nicht binden (RS0041342; RS0042554; RS0041180).
[25] 4. Der Revision der Beklagten ist somit Folge zu geben und das Klagebegehren zur Gänze abzuweisen. Dabei war nur über den Feststellungsanspruch nach § 247 Abs 2 ASVG abzusprechen. Die frühere Rechtsprechung, wonach der Bescheid, mit dem der Versicherungsträger gemäß § 247 ASVG die Versicherungszeiten feststellt, eine inhaltliche Einheit bildet (RS0084896) und daher über den gesamten Bescheidinhalt neuerlich abzusprechen ist (RS0084896 [T4]), beruht auf der Rechtslage vor der Schaffung des § 247 Abs 2 ASVG und ist auf diesen nicht anzuwenden (10 ObS 104/22z; 10 ObS 113/22y).
[26] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
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