Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung der ersten Instanz wiederhergestellt wird.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 7.7.1989 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 6.3.1989 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.
Die rechtzeitige Klage richtet sich auf eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß "ab Anfallstag gemäß § 86 ASVG" und stützt sich im wesentlichen darauf, daß die Klägerin ihren angeblich angelernten Beruf als Buchbinderin bzw eine geregelte Arbeit wegen Schmerzen in den Kniegelenken beim Gehen und Stehen, Schmerzen in der Wirbelsäule beim Bücken und in gleichbleibender Haltung, Untergewichts und eines Zustandes nach angeborener Hüftluxation rechts mit Beinverkürzung von 4 cm, einer Funktionseinschränkung im linken Hüftgelenk, Schwellung beider Füße und Hände, Gefühllosigkeit in den Händen und Kopfschmerzen nicht mehr ausüben könne. Wegen der jährlich zu erwartenden Krankenstände von etwa acht Wochen sei die Klägerin vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage und wendete ein, daß die während der letzten 15 Jahre vor dem Antrag als Arbeiterin und Vertragsbedienstete tätig gewesene Klägerin alle leichten und mittelschweren Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, teils im Stehen und Gehen, leisten und daher zB noch als Sitzkassierin, Telefonistin, Billeteurin erwerbstätig sein könne.
Das Erstgericht wies die Klage ab.
Nach seinen unbekämpft gebliebenen Feststellungen leidet die am 31.1.1951 geborene Klägerin an einer angeborenen Hüftluxation mit Verkürzung des rechten Beines um 4 cm, eingeschränkter Beweglichkeit der rechten Hüfte und Verschmächtigung der Oberschenkelmuskulatur, einer Gangstörung rechts, einer Ausgleichskoliose der Wirbelsäule und statischer Insuffizienz, einem deutlichen Untergewicht bei altersentsprechendem Herz-, Kreislauf-, Lungen- und Bauchbefund sowie an einem mäßigen Cervikalsyndrom und einem neurasthenischen Zustandsbild mit vegetativer Labilität.
Mit diesem körperlichen und geistigen Zustand kann die Klägerin während der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Unterbrechungen alle leichten, während der halben Arbeitszeit auch mittelschwere Arbeiten verrichten, und zwar vorwiegend im Sitzen, bis zu einem Drittel der Arbeitszeit auch im Stehen und Gehen. Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und unter dauerndem besonderem Zeitdruck (Band- und Akkordarbeiten) sind ausgeschlossen. Die Klägerin ist nur für einfache Arbeiten unterweisbar, kann aber auch gewohnte nicht einfache Arbeiten leisten. Diese Arbeitsfähigkeit besteht seit dem Pensionsantrag. Wegen der Aufbrauchserscheinungen an Hüfte und Kniegelenken, bei denen mit einer Verschlechterung zu rechnen ist, ist mit jeweils zehn bis vierzehn Tagen dauernden gestaffelten Krankenständen von (insgesamt) etwa acht Wochen im Jahr zu rechnen. Dabei handelt es sich um eine Maximaleinschätzung.
Die Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war in den letzten fünfzehn Jahren vor dem Pensionsantrag überwiegend als Arbeiterin in einer Buchbinderei tätig, wobei sie jedoch nur höchstens 40 % der Tätigkeiten eines gelernten Buchbinders ausübte.
Ihre Arbeitsfähigkeit reicht für diese Buchbindertätigkeiten nicht mehr aus, wohl aber für die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Zahl gefragten Tätigkeiten einer unqualifizierten Fertigungsprüferin, Hilfsarbeiten in der Spielwarenerzeugung und in Adressenverlagen sowie einer Telefonistin.
Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei die nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig gewesene Klägerin wegen dieser Verweisungsmöglichkeiten nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG. Die jeweils zehn bis vierzehn Tage dauernden Krankenstände im jährlichen Höchstausmaß von acht Wochen seien noch nicht so häufig, daß eine kontinuierliche Arbeitsleistung ausgeschlossen wäre. Dehalb sei die Arbeitsfähigkeit der Klägerin auf dem Arbeitsmarkt noch nicht unverwertbar.
In der nur wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung bekämpfte die Klägerin nur die im letztgenannten Satz wiedergegebene Rechtsansicht des Erstgerichtes.
Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und verurteilte die beklagte Partei, der Klägerin vom 1.4.1989 an eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und ihr ab dem 1. des auf die Zustellung des Berufungsurteils folgenden Monates eine vorläufige Leistung von monatlich 6.000 S zu erbringen.
Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (SSV-NF 3/152, 4/40, 10 Ob S 88/90 und 10 Ob S 353/90) sei bei Krankenständen in der diesem Fall entsprechenden Dauer ein Ausschluß vom Arbeitsmarkt anzunehmen
Dagegen richtet sich die nicht beantwortete Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinne abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Der erkennende Senat hat wiederholt (SSV-NF 3/152, 4/40 ua) ausgesprochen, daß häufige oder länger dauernde Krankenstände dazu führen können, daß die Arbeitsfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr bewertet wird und er daher von diesem ausgeschlossen ist. Für die Lösung der Frage, welche Krankenstände von Arbeitgebern im allgemeinen ohne besonderes Entgegenkommen hingenommen werden, können die vom Österreichischen Statistischen Zentralamt ermittelten durchschnittlichen Krankenstände einen geeigneten Anhaltspunkt bilden, weil sich daraus ableiten läßt, mit welchen Krankenständen der Arbeitgeber bei jedem Arbeitnehmer rechnen muß. Weicht die Dauer der bei einem Versicherten zu erwartenden Krankenstände von diesem Durchschnitt nicht allzusehr ab, dann kann kein Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt vorliegen.
Aus diesen Erwägungen hat der erkennende Senat bei Krankenständen von durchschnittlich sechs Wochen (SSV-NF 3/45), 30 (10 Ob S 128/89) und 30 bis 40 (10 Ob S 153/89) Krankenstandstagen sowie 30 Arbeitstagen (10 Ob S 157/89) im Jahr einen Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt verneint, bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, die im einzelnen drei Wochen und im Jahr insgesamt acht Wochen (SSV-NF 3/152) und von zwei oder drei Monaten pro Jahr (SSV-NF 4/40) bejaht.
Obwohl eine absolut sichere Aussage zu künftigen Krankenständen medizinisch oft nicht möglich sein wird, muß für solche Prognosen ein hohes Maß von naturwissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit gefordert werden, wozu eine Aussage, daß Krankenstände "möglich bis wahrscheinlich" sind, nicht ausreicht (zB SSV-NF 3/120).
Im vorliegenden Fall hatten sich die vom Erstgericht bestellten Sachverständigen für Orthopädie/Chirurgie, Innere Medizin und Neurologie/Psychiatrie in ihren schriftlichen Gutachten zur Frage von Krankenständen überhaupt nicht geäußert. In der Tagsatzung vom 18.6.1990 erklärte der erstgenannte Sachverständige erstmals, vermutlich unter Bedachtnahme auf die massiven degenerativen Aufbrauchserscheinungen der Hüfte und die noch geringen Kniegelenksveränderungen, daß mit einer Verschlechterung und mit gesteigerten Krankenständen in der Dauer von insgesamt etwa acht Wochen im Jahr zu rechnen sei. Nachdem der Klagevertreter in der Tagsatzung vom 13.5.1991 unter Hinweis auf diese Ergänzung des genannten Sachverständigen einen Ausschluß vom Arbeitsmarkt behauptet hatte, präzisierte der Sachverständige für Orthopädie/Chirurgie auf Frage der Senatsvorsitzenden, daß sich die acht Wochen nicht durchgehend, sondern über ein Jahr verteilt verstünden, gestaffelt von jeweils zehn bis vierzehn Tagen. Die acht Wochen verstünden sich als Maximaleinschätzung. Nach Vorlage einer Behandlungskarte des Institutes für physikalische Medizin erklärte dieser Sachverständige, daß die Klägerin nach seiner Untersuchung vom (25.)August 1989 ab Dezember 1989 nur eine einzige Behandlungsserie durchgemacht habe, weshalb eine wesentliche Verschlechterung eher unwahrscheinlich sei und die Krankenstände eher unter acht Wochen anzusetzen wären.
Die widergegebene Feststellung, daß infolge der Aufbrauchserscheinungen an Hüfte und Kniegelenken, bei denen mit einer Verschlechterung zu rechnen ist, mit gesteigerten Krankenständen in der Dauer von etwa acht Wochen im Jahr zu rechnen ist, die sich als Maximaleinschätzung verstehen, wobei die Krankenstände gestaffelt zu etwa jeweils zehn bis vierzehn Tagen zu prognostizieren sind, zeigt, daß das Erstgericht dabei den ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen für Orthopädie/Chirurgie gefolgt ist.
Bei der rechtlichen Beurteilung ist daher davon auszugehen, daß die prognostizierten Krankenstände von acht Wochen als (eher weniger wahrscheinliche) Maximaleinschätzung zu verstehen sind, diese Höchstdauer also zwar als möglich, aber keinesfalls mit hoher naturwissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit angenommen und festgestellt wurde.
Unter diesen festgestellten Umständen ist nicht erwiesen, daß die bei der Klägerin zu erwartenden Krankenstände die nach der Krankenstandsstatistik bei Arbeitnehmern zu erwartende durchschnittliche Dauer so erheblich übersteigen würden, daß sie zu einem Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt führen.
Deshalb war der Revision Folge zu geben und das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der klageabweisenden erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern.
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