OGH 10ObS111/20a

OGH10ObS111/20a13.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch MMag. Maria Größ, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Juni 2020, GZ 7 Rs 3/20 t‑37, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129804

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPOzurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in der Variante 30+6 in Höhe von 14,53 EUR täglich anlässlich der Geburt ihrer Tochter V* am 22. 12. 2014. Die Klägerin lebt mit dem Kind in Österreich. Der Vater des Kindes lebt in Italien.

[2] Mit der Vorentscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 28. 5. 2019, AZ 10 ObS 42/19b (DRdA 2020/22, 257 [Rief] = SSV‑NF 33/29) wurden die klagezurückweisenden Beschlüsse der Vorinstanzen ersatzlos aufgehoben; dem Erstgericht wurde die Einleitung des Verfahrens unter Abstandnahme vom Zurückweisungsgrund aufgetragen. Ausgeführt wurde, dass die in § 27 Abs 4 KBGG geforderte Entscheidungsreife nach rechtskräftiger Klärung von Vorfragen im Sinn der Vorgaben des Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 und Art 7 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 unionsrechtskonform (einschränkend) dahin auszulegen sei, dass mit der Entscheidung über die Gewährung (oder Nichtgewährung) eines allfälligen vorläufigen Unterschiedsbetrags nicht so lange zugewartet werden könne, bis der prioritär zuständige Träger über die vergleichbare Familienleistung und deren Höhe endgültig entschieden habe. Dass die beklagte Partei bis Klageeinbringung im März 2017 keinen Bescheid über die (vorläufige) Leistung erlassen habe, begründe einen Säumnisfall, auch wenn ihr noch keine rechtskräftige Entscheidung des prioritär zuständigen italienischen Trägers über die Höhe der in Italien gebührenden Familienleistung vorgelegen habe.

[3] Im fortgesetzten Verfahren hielt die Klägerin ihren Standpunkt, ihr stehe kein Anspruch auf italienische Familienleistungen zu, aufrecht und legte ein Schreiben eines Nationalen Verbandsinstituts für Sozialbetreuung – Abteilung Österreich vor, nach dem für sie die (erst für Geburten ab 2015 eingeführte) italienische Familienleistung „bonus bebe“ nicht in Betracht komme, ihre Antragstellung auf diese Leistung ohne Reaktion geblieben sei und ihr in Italien auch keine anderen Familienleistungen (wie Mutterschaftsgeld, Familiengeld, Familienleistungen der Gemeinden und Regionen etc) zustehe.

[4] Die beklagte Partei bestritt die Richtigkeit dieses Schreibens und beantragte die Einräumung einer Frist zur Erstattung von Vorbringen zur Höhe der an die Klägerin erbrachten oder dieser zustehenden) italienischen Familienleistungen.

[5] Das Erstgericht sprach der Klägerin (nach Abweisung dieses Antrags der beklagten Partei) das pauschale Kinderbetreuungsgeld in der Variante 30+6 in Höhe von 14,53 EUR täglich (somit in voller Höhe) als Ausgleichszahlung zu einer allfälligen vorrangigen italienischen Leistung vorläufig zu.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und ließ die Revision nicht zu.

[7] Die außerordentliche Revision der beklagten Partei ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1. Der von der Klägerin bei der beklagten Partei gestellte Antrag auf Kinderbetreuungsgeld wurde von der beklagten Partei an den – ihres Erachtens prioritär zuständigen – italienischen Träger weitergeleitet, der zur vorläufigen Entscheidung der beklagten Partei über die Prioritätsregeln keine Stellungnahme iSd Art 60 Abs 3 DVO [EG] 987/2009 abgegeben hat. Der italienische Träger hat im Sinn des Prinzips der europaweiten Relevanz der Antragstellung den Antrag so zu bearbeiten als wäre er direkt bei ihm gestellt worden (Art 68 Abs 3 VO [EG] 883/2004; Marhold in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 68 Rz 9). Die Frage, wie mit einer beim prioritär zuständigen Mitgliedstaat unterlassenen Antragstellung umzugehen ist, stellt sich daher nicht mehr (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg] Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 16).

[9] 2.1 Eine Verletzung der Mitwirkungs- bzw Informationspflichten (Art 76 Abs 4 Satz 3 VO [EG] 883/2004) soll nach Ansicht der Revisionswerberin dennoch darin liegen, dass die Klägerin die Anspruchsprüfung und Berechnung der Höhe allfällig zustehender italienischer Familienleistung verhindert habe, indem sie in Italien allenfalls zusätzlich erforderliche Antragsformulare nicht ausgefüllt und die erforderlichen Nachweise nicht erbracht habe.

[10] 2.2 Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht hätte zur Folge, dass angemessene Maßnahmen nach dem nationalen Recht zu ergreifen wären (Art 76 Abs 5 VO [EG] 883/2004). Diese Maßnahmen sind in § 32 Abs 4 KBGG vorgesehen. Der Krankenversicherungsträger kann bei – trotz zweimaliger schriftlicher Aufforderung gegebener – Verletzung der Mitwirkungspflicht und dadurch verursachter erheblicher Erschwerung oder Verhinderung der Aufklärung des Sachverhalts den Leistungsanspruch ohne weitere Ermittlungen ablehnen.

[11] 2.3 Dass die Klägerin einer Mitwirkungspflicht trotz zweimaliger schriftlicher Aufforderung (§ 32 Abs 4 KBGG) nicht nachgekommen wäre, hat die beklagte Partei aber auch im fortgesetzten Verfahren erster Instanz nicht behauptet.

[12] 3.1 Nach Art 76 Abs 4 der VO [EG] 883/2004 sind die Träger und Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung fallen, zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten. Diese Verpflichtung der zuständigen Träger zur loyalen Zusammenarbeit soll vermeiden, dass Streitigkeiten der Träger auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden (Wunder in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] 883/2004 Art 76 Rz 24 mwN).

[13] 3.2 Nach dem übereinstimmenden Parteienvorbringen hat der italienische Träger entgegen dieser Verpflichtung seit mehreren Jahren weder der Klägerin eine positive oder negative Entscheidung zukommen lassen noch der beklagten Partei die erforderlichen Informationen erteilt. Wie die beklagte Partei in ihrer Revision neuerlich vorbringt, sieht sie sich daher nicht in der Lage, die Höhe einer vorläufigen oder endgültigen Ausgleichszahlung festzustellen oder etwaige Überzahlungen korrekt darzulegen.

[14] Zu ihrem (durchaus verständlichen) weiteren Vorbringen, infolge des Verhaltens des italienischen Trägers komme es im Ergebnis zu einer Überwälzung der (vollen) Leistungsverpflichtung auf Österreich, kann nur darauf verwiesen werden, dass der Erfolg der Koordinierung entscheidend vom Zusammenspiel der zuständigen Behörden abhängt (Wunder in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] 883/2004 Art 76 Rz 26 mwN). Beim Informationsaustausch zwischen den Trägern sollen ua die Bestimmungen von Art 68 Abs 3 und Art 76 Abs 4 der VO (EG) 883/2004 eingehalten werden (Erwägungsgrund 3 des Beschlusses Nr F2 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 23. Juni 2015 über den Datenaustausch zwischen den Trägern zum Zweck der Gewährungen von Familienleistungen [2016/C52/07]). Ist es den Trägern unmöglich, in angemessener Zeit eine Lösung zu finden, können sie die Verwaltungskommission einschalten (Wunder in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] 883/2004, Art 76 Rz 24 f; Cornelissen in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 VO [EG] 883/2004 Art 72 Rz 26).

[15] 4.1 Auf Art 7 der DVO (EG) 987/2009 wurde bereits in der Vorentscheidung ausdrücklich eingegangen. Dessen Regelungszweck ist, einem Leistungsempfänger zeitgerecht einen Gesamtbetrag an Leistungen zu garantieren, der gleich dem Betrag der günstigsten, also höchsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (EuGH C‑32/18 , Moser, Rn 42 und 46). Eine Aussetzung der Leistungsverpflichtung ist – wie bereits in der Vorentscheidung ausgesprochen – nur für maximal zwei Monate zulässig.

[16] 5. Auch mit dem Hinweis auf den Beschluss Nr F2 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 23. Juni 2015 über den Datenaustausch zwischen den Trägern zum Zweck der Gewährungen von Familienleistungen (2016/C52/07) wird keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts aufgezeigt. Wie sich aus dessen Erwägungsgrund 3 ergibt, wird darin von der Beachtung der gegenseitigen Informationspflichten zwischen den Trägern und den betroffenen Personen ausgegangen. Auf dieser Grundlage wird in Pkt 5 des Beschlusses bei der Berechnung des Unterschiedsbetrags vorausgesetzt, dass dem Mitgliedstaat alle Informationen vorliegen, die er für dessen Berechnung benötigt. Eine Auslegungshilfe dazu, wie vorzugehen ist bzw wie die Berechnung vorzunehmen ist, wenn ein Träger seine Informationspflichten nicht eingehalten hat, enthält der Beschluss Nr F2 der Verwaltungskommission nicht.

[17] 6.1 Die beklagte Partei hat bereits in ihrer Berufung als Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz gerügt, das Erstgericht hätte ihr bisheriges Vorbringen zu den italienischen Familienleistungen als ausreichend bewerten bzw dieses Vorbringen zum Anlass nehmen müssen, von Amts wegen zur Art und Höhe etwaiger der Klägerin in Italien gebührender Familienleistungen Beweise aufzunehmen und ein Rechtsgutachten einzuholen. Die Ergebnisse wären sodann der in Österreich beantragten Pauschalvariante des Kinderbetreuungsgeldes gegenüberzustellen und ein in Österreich allenfalls zustehender Differenzbetrag zu errechnen gewesen.

[18] 6.2 Das Berufungsgericht hat diesen angeblichen Mangel des Verfahrens erster Instanz verneint, sodass er – auch im Verfahren nach dem ASGG – im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden kann (RS0043963). Dies gilt auch für eine angebliche Verletzung der Verpflichtung zur Anleitung bzw zur amtswegigen Beweisaufnahme nach § 87 Abs 1 ASGG (10 ObS 132/12b; 10 ObS 98/13d).

[19] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist daher zurückzuweisen.

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