OGH 10ObS100/21k

OGH10ObS100/21k29.7.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*****, vertreten durch Dr. Manfred Rath, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65–67, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 4. Mai 2020, GZ 6 Rs 2/21t‑89, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00100.21K.0729.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die 1963 geborene Klägerin war von Oktober 1987 bis 2. 6. 2016 als Radiologietechnologin an einer Abteilung für vaskuläre und interventionelle Radiologie eines Krankenhauses beschäftigt. Sie war in diesem Zeitraum als strahlenexponierte Person der Kategorie A eingestuft. Die Klägerin war hauptsächlich im Durchleuchtungsbereich tätig. Sie bediente die Angiographieanlagen und übte die sterile Assistenz bei operativen Eingriffen aus. Bis zum Jahr 2000 wurden die vorgesehenen Grenzwerte für strahlenexponiertes Personal unterschritten. Nach dem Jahr 2000 kann eine Dosisüberschreitung zwar nicht ausgeschlossen werden, mit ziemlicher Sicherheit wurden die vorgesehenen Grenzwerte jedoch nicht überschritten. Unter der Annahme, dass die Klägerin in jedem Jahr stets die maximale 12‑Monats‑Dosis erhielt, betrug das Strahlenrisiko, ab dem 51. Lebensjahr an Brustkrebs zu erkranken, 2,5 %. Unter der Annahme, dass 25 % des gesamten Brustgewebes stets ungeschützt war, betrug dieses Strahlenrisiko 0,7 %.

[2] Die Klägerin erkrankte im Dezember 2014 an Brustkrebs links. Die Entstehung von Brustkrebs ist multifaktoriell, die Erkrankung ist nicht auf einen einzigen Risikofaktor zurückzuführen. Durch ionisierende Strahlen kann das Risiko für Brustkrebs durch eine Reihe verschiedener Mechanismen erhöht werden. Im Fall der Klägerin gibt es keinen objektivierten Hinweis, dass erlaubte Grenzwerte der beruflichen Strahlenexposition überschritten wurden. Bei Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte wurden keine höheren Inzidenzen des Brustkrebses bei Radiologietechnologinnen gefunden, die nach 1950 ihre Arbeit angetreten haben. Auch die Überschreitung des Grenzwerts bedeutet nicht automatisch, an der Folge der Belastung zu erkranken, sondern vielmehr, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten gesundheitlicher Folgen (insbesondere von Krebserkrankungen) über einem mehr als annehmbar festgelegten Wert liegt. Ein Kausalzusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit der Klägerin und dem bei ihr diagnostizierten Brustkrebs kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

[3] Mit Bescheid vom 26. 1. 2016 lehnte die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt die Anerkennung der Erkrankung des Brustdrüsengewebes der Klägerin als Berufskrankheit gemäß § 177 ASVG Anlage 1 Nr 16 und die Gewährung von Leistungen aus der Unfallversicherung ab.

[4] Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die bei ihr vorliegende Gesundheitsstörung Folge einer Berufskrankheit gemäß § 177 ASVG Anlage 1 Nr 16 (Erkrankungen durch ionisierende Strahlen) sei. Infolge ihrer Arbeitstätigkeit und unzureichender Schutzkleidung sei gerade der Brustbereich ungeschützt strahlenexponiert gewesen. Die Strahlungsquelle sei links von ihr positioniert gewesen, sie sei linksseitig an Brustkrebs erkrankt. Teilweise habe sie auch ungeschützt mit dem Rücken zur Strahlungsquelle gewandt gearbeitet.

[5] Die Beklagte wandte die fehlende Kausalität der Arbeitstätigkeit der Klägerin ein. Sie sei zu keinem Zeitpunkt einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt gewesen als die Durchschnittsbevölkerung; die vorgesehenen Grenzwerte seien nicht überschritten worden.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Klägerin sei der Nachweis, dass zwischen ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer Erkrankung ein Kausalzusammenhang mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bestehe, nicht gelungen.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.

[8] In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:

Rechtliche Beurteilung

[9] 1. Das Berufungsgericht hat den von der Klägerin geltend gemachten Mangel des Verfahrens erster Instanz, die Nichtbeiziehung eines Sachverständigen für Epidemiologie, verneint. Angebliche Verfahrensmängel erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche anerkannt worden sind, können in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (RS0042963). Ob ein in der Berufung behaupteter Verfahrensmangel vom Berufungsgericht zu Recht verneint wurde, ist vom Revisionsgericht auch in Sozialrechtssachen nicht mehr zu prüfen (RS0043061). Dieser Grundsatz kann auch nicht durch die Behauptung, das Berufungsverfahren sei – weil das Berufungsgericht der Mängelrüge nicht gefolgt sei – mangelhaft geblieben, umgangen werden (RS0042963 [T58]).

[10] 2.1 Ein Mangel des Berufungsverfahrens läge nur vor, wenn sich das Berufungsgericht mit der Mängelrüge überhaupt nicht befasst oder diese mit einer nicht durch die Aktenlage gedeckten Grundlage oder sonst unhaltbaren Begründung verworfen hätte, was hier nicht der Fall ist.

[11] 2.2 Auf die Frage, ob der Brustkrebs der Klägerin im oberen äußeren Quadranten der linken Brust, oder – wie die Sachverständige ausgeführt hat – in deren oberen Quadranten aufgetreten ist, kommt es nicht an. Der Umstand, dass im oberen Quadranten der linken Brust eine geringere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Brustkrebs aus allgemeinen Ursachen bestehen mag, hat noch nicht den von der Revisionswerberin gewünschten Umkehrschluss zur Folge, dass bei ihr deshalb die berufliche Tätigkeit Ursache ihrer Erkrankung gewesen sei. Ein solcher Kausalzusammenhang steht hier vielmehr nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest.

[12] 2.3 Soweit die Revisionswerberin die Unvollständigkeit des Gutachtens der Sachverständigen aus dem Fachgebiet Gynäkologie und dessen Unschlüssigkeit behauptet – etwa mit dem Argument, die Sachverständige zitiere eine Studie, die nur für Radiologietechnikerinnen gelte, nicht aber für eine Radiologietechnologin wie die Klägerin – bekämpft sie die im Revisionsverfahren nicht mehr anfechtbare Beweiswürdigung der Vorinstanzen (RS0113643 [T7]).

[13] 3. Ein Mangel des Berufungsverfahrens liegt ua dann vor, wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisrüge nicht oder nur so mangelhaft befasst, dass keine nachvollziehbaren Überlegungen über die Beweiswürdigung angestellt und im Urteil festgehalten sind (RS0043371 [T13]). Davon kann hier keine Rede sein, hat sich doch das Berufungsgericht gerade auch mit dem Argument der Klägerin auseinandergesetzt, dass die vom Sachverständigen für Strahlenbelastung zitierte aktuelle Fassung der „OVE EN 61331‑3: Strahlenschutz in der medizinischen Röntgendiagnostik – Teil 3 Schutzbekleidung, Augenschutz und Abschirmungen für Patienten“ (ON 44) zwar während der Arbeitstätigkeit der Klägerin noch nicht veröffentlicht war, dass es aber darauf aus den vom Berufungsgericht dargelegten Gründen hier nicht ankomme.

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