OGH 10Ob64/11a

OGH10Ob64/11a4.10.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und widerbeklagten Partei H***** R*****, vertreten durch Dr. Bernhard Birek, Rechtsanwalt in Schlüßlberg, gegen die beklagte und widerklagende Partei R***** R*****, vertreten durch Dr. Klaus-Dieter Strobach und andere Rechtsanwälte in Grieskirchen, wegen Ehescheidung, über die außerordentliche Revision der klagenden und widerbeklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 1. April 2011, GZ 21 R 55/10b-65, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Nichtigkeiten, über deren Vorliegen oder Nichtvorliegen eine den Obersten Gerichtshof bindende Entscheidung der Vorinstanzen nicht vorliegt, sind aus Anlass eines prozessual zulässigen außerordentlichen Rechtsmittels als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO wahrzunehmen (9 Ob 49/08h mwN; RIS-Justiz RS0042743). Insbesondere ist auch der Mangel der Prozessfähigkeit einer Partei in jeder Lage des Rechtsstreits von Amts wegen zu berücksichtigen (§ 6 Abs 1 ZPO). Das außerordentliche Rechtsmittel ist aber entgegen der Auffassung der Revisionswerberin nicht schon deswegen anzunehmen, weil eine Nichtigkeit bloß behauptet wird (9 Ob 49/08h mwN). Die unbegründete Geltendmachung eines Nichtigkeitsgrundes führt nicht dazu, dass eine erhebliche Rechtsfrage vorliegt (9 Ob 49/08h; RIS-Justiz RS0043067). Andernfalls könnte allein durch die Geltendmachung eines Nichtigkeitsgrundes die Revisionsbeschränkung des § 502 Abs 1 ZPO umgangen werden (9 Ob 49/08h mwN).

Die Revisionswerberin behauptet einen Vertretungsmangel gemäß § 477 Abs 1 Z 5 ZPO als Nichtigkeitsgrund. Eine Nichtigkeit nach dieser Bestimmung liegt dann vor, wenn eine Partei in dem Verfahren gar nicht oder, falls sie eines gesetzlichen Vertreters bedarf, nicht durch einen solchen vertreten war, sofern die Prozessführung nicht nachträglich ordnungsgemäß genehmigt wurde. Die Geltendmachung ist jedoch unbegründet:

Die Klägerin ist nach den Feststellungen der Vorinstanzen zwar manisch-depressiv, was aber aufgrund der Verfahrensergebnisse nichts an der Bejahung ihrer Verantwortlichkeit für sämtliche von ihr gesetzten, als Eheverfehlungen zu wertenden Verhaltensweisen ändere. Die Revisionswerberin ist der Auffassung, ihre Prozessunfähigkeit sei indiziert, weil sie nicht zum Sachverständigen habe fahren wollen und gemeint habe, sie werde den Ladungen des Sachverständigen nicht Folge leisten, weil das alles nichts bringe.

Dem ist zu erwidern:

Die Klägerin hat die Scheidungsklage am 10. 2. 2004 beim Erstgericht zu Protokoll gegeben. Am 10. 8. 2004 stellte sie beim Erstgericht den Protokollarantrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe und auf Beigebung eines Rechtsanwalts. Mit Beschluss vom 25. 8. 2004 bewilligte das Erstgericht den Antrag. Der Revisionswerberin wurde mit Bescheid der Rechtsanwaltskammer Oberösterreich vom 30. 8. 2004 ein Rechtsanwalt zum Verfahrenshelfer bestellt. Seitdem ist die Revisionswerberin im Klage- und im Widerklageverfahren durch einen Rechtsanwalt als Verfahrenshelfer vertreten.

Durch den erst im Lauf des Prozesses eintretenden Verlust der Prozessfähigkeit einer Partei wird die auf § 64 Abs 1 Z 3 ZPO beruhende Vertretungsmacht des vor Verlust der Prozessfähigkeit der Partei bestellten Rechtsanwalts nicht berührt. Die von diesem Anwalt gesetzten Prozesshandlungen und die an ihn bewirkten Zustellungen sind - auch ohne Mitwirkung des nach Verlust der Prozessfähigkeit der Partei bestellten gesetzlichen Vertreters - wirksam (8 Ob 2185/96y, SZ 71/97; RIS-Justiz RS0035674; M. Bydlinski in Fasching/Konecny² § 64 ZPO Rz 20). Nach der neueren Rechtsprechung wirkt die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit des Behinderten durch Sachwalterbestellung rechtsgestaltend nur für die Zukunft (8 Ob 2185/96y, SZ 71/97; RIS-Justiz RS0110082). Eine Beurteilung der Prozessfähigkeit der Betroffenen auch für die Vergangenheit durch den Außerstreitrichter (s § 6a ZPO) verstieße gegen Art 6 EMRK, weil durch eine allfällige Nichtigerklärung in die Rechte des Prozessgegners eingegriffen würde, dem im Verfahren nach den §§ 117 ff AußStrG keine Parteistellung zukommt. Für die Vergangenheit ist die Frage der Prozessfähigkeit des Behinderten daher vom Prozessgericht zu beurteilen. Der Außerstreitrichter hat daher entgegen der von Gitschthaler, JBl 1997, 183 und noch von 9 Ob 82/97t vertretenen Auffassung nicht festzustellen, in welchem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt die Prozessunfähigkeit eingetreten ist (8 Ob 2185/96y, SZ 71/97; Schubert in Fasching/Konecny² § 6a ZPO Rz 1).

Abgesehen davon, dass die Klägerin nach den Feststellungen des Erstgerichts der Befundaufnahme in der Verhandlungstagsatzung am 9. 9. 2009 nach eigenem Bekunden deshalb fernblieb, weil sie den Termin übersehen hatte, ist nicht (insbesondere durch das Gutachten vom 11. 1. 2005) dargetan, dass sie schon zum Zeitpunkt der Antragstellung und der Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung der Verfahrenshilfe und Beigebung des Rechtsanwalts im Sommer 2004 prozessunfähig war (nicht erfassen konnte, dass sie die Scheidung betrieb und nicht in der Lage war, dem für sie bestellten Rechtsanwalt die entsprechenden Informationen zu erteilen). Die Einleitung und Fortsetzung des Sachwalterbestellungsverfahrens während des Revisionsverfahrens ist daher insofern im Anlassfall ohne Bedeutung.

Haben die Vorinstanzen infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung erforderliche Feststellungen nicht getroffen und notwendige Beweise nicht aufgenommen, so sind diese „rechtlichen Feststellungsmängel“ nicht Verfahrensmängel im engeren Sinn, sondern mit Rechtsrüge geltend zu machen. Der behauptete Verfahrensmangel liegt daher nicht vor. Das Berufungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass aufgrund der Ergebnisse der vom Erstgericht durchgeführten Verfahrensergänzung eine weitere Verfahrensergänzung, nämlich in Bezug auf das behauptete aggressive Verhalten des Beklagten gegenüber der Klägerin und ihrer Mutter während der Schwangerschaft nicht bedarf, weil selbst wenn diese Feststellungen getroffen würden, dies nichts an der Gewichtung der ihr anzulastenden Eheverfehlungen ändern würde. Diese Beurteilung im Einzelfall ist jedenfalls vertretbar.

Welchem Ehepartner Eheverfehlungen zur Last fallen und welchen das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe trifft, ist eine Frage des konkreten Einzelfalls, die - von Fällen krasser Fehlbeurteilung abgesehen - nicht als erheblich iSd § 502 Abs 1 ZPO zu beurteilen ist (RIS-Justiz RS0118125; RS0119414; RS0110837). Ein überwiegendes Verschulden ist auszusprechen, wenn der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt (RIS-Justiz RS0057821; RS0057858). Die ausführlich begründete Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Eheverfehlungen des Beklagten gegenüber den festgestellten gravierenden Eheverfehlungen der Klägerin deutlich in den Hintergrund treten, ist jedenfalls vertretbar.

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