OGH 10Ob505/95

OGH10Ob505/9528.2.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier, Dr.Bauer, Dr.Schalich und Dr.Ehmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Wolfgang W*****, nunmehr gesetzlich vertreten durch die obsorgeberechtigte Mutter Ida H*****, Hausfrau, ebendort, vertreten durch Dr.Bernt Strickner, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Ernst R*****, vertreten durch Dr.Arne Markl, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 300.000 S infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 14.Oktober 1994, GZ 4 R 228/94-11, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 16.Juni 1994, GZ 40 Cg 4/94p-6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung der ersten Instanz wiederhergestellt wird.

Der Beklagte hat dem Kläger binnen vierzehn Tagen auch die einschließlich 3.811,80 S Umsatzsteuer mit 22.870,80 S bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die einschließlich 2.287,50 S Umsatzsteuer mit 13.725 S bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 6.11.1981 geborene Kläger wurde am 14.5.1986 unter einem selbstschließenden Garagentor, in das der Beklagte einen Motor ohne Rutschkupplung eingebaut hatte, in Höhe der Schulterblätter eingeklemmt. Als unmittelbare Folge des vom Garagentor auf den Brustkorb einwirkenden Druckes traten ein lebensbedrohendes Thoraxkompressionstrauma sowie ein Atem- und Herzstillstand mit einer Ischämiezeit von drei bis fünf Minuten ein. Der durch den plötzlichen und massiven Abfall der Herzleistung bewirkte schwerste Schockzustand konnte zwar durch die Wiederbelebung nach etwa vier Minuten beendet werden, hinterließ aber irreversible Schäden des zentralen Nervensystems. Der Kläger wurde vom Notarzt erstversorgt, gelangte mit einer vita minima in die Unfallchirurgie, wurde rettungsmäßig intubiert, beatmet und in Intensivpflege der anästhesiologischen Klinik gebracht, wo er bis 25.5.1986 verblieb. Bis 7.7.1986 befand er sich in Intensivpflege der neurologischen Klinik, anschließend bis 24.7.1986 in der Universitätskinderklinik, wo er vom 26.12.1986 bis 29.4.1987 neuerlich stationär behandelt wurde. Ab diesem Zeitpunkt wird der apallische und absolut pflegebedürftige Kläger von seiner inzwischen eingeschulten Mutter gepflegt. Er war aber auch immer wieder längere Zeit in der Kinderklinik, zB im Dezember 1990 mit einem hohen Fieberschub. Er wurde auch in der orthopädischen Klinik behandelt. Dort wurden schwerste Kontrakturen an den oberen Extremitäten, vor allem an den Ellbogengelenken, aber auch an den unteren Extremitäten, an Hüfte und Kniegelenk, durch das Anlegen von Quengelschienen und Gipsschienen und durch das Anpassen einer Sitzschale zur Mobilisation versorgt. Es kam auch zu operativen Eingriffen durch Sehnentrennungen in den Hüften und in den Kniegelenken mit nachfolgender Gipsfixation und Nachsorge an der orthopädischen Klinik bis 22.11.1990. Im Rahmen der zur Verbesserung der Kontrakturen erforderlichen Physikotherapie kam es es zu suprakondylen Brüchen der weichen, entkalkten und hochgradig abgebauten Oberschenkel. Beim Klgäer liegt ein hochgradiges, posttraumatisches, spastisches Defektbild vor. Es besteht die Möglichkeit, ihn wenigstens zum Teil in einem Sitzwagen zu lagern, bei kontrakten Hüften, Knien, Spitzfußstellungen und teilkontakten Gelenken der oberen Extremität(en). Der Kläger zeigt das Krankheitsbild eines apallischen Syndroms, er reagiert aber angedeutet auf Umweltreize. Es besteht ein Zustand absoluter Hilflosigkeit, ohne Fähigkeit zu verbaler Kontaktaufnahme und willkürlichen Bewegungen. Das Bewußtsein ist auf einer niedrigen Stufe erhalten, die Großhirnfunktionen sind weitgehend erloschen. Der Kläger würde auf einen massiven physischen Schmerz und auf andere überschwellige Reize zB durch Verziehen des Gesichtes reagieren. Angesichts der vita minima, die einem Zustand starker Schmerzen gleichzuhalten ist, kann davon ausgegangen werden, daß der Kläger seit dem Unfall an Schmerzen schweren Grades leidet.

Mit Urteil des OLG Innsbruck vom 8.1.1993, 4 R 291/92 wurde die N***** Gesellschaft mbH als Eigentümerin und Bestandgeberin der vom Kläger, seiner Mutter und seinem Stifvater bewohnten Wohnung und der Tiefgarage, durch deren Tor der Kläger verletzt wurde, ua zur Zahlung eines Schmerzengeldes von 1,100.000 S und einer Verunstaltungsentschädigung von 350.000 S an den Kläger verpflichtet. Zwischen dem Vertreter des Klägers und dem Vertreter der dortigen Beklagten wurde vereinbart, daß das zit Urteil nicht angefochten wird. Diese Vereinbarung erstreckte sich aber nicht auf den im vorliegenden Verfahren Beklagten.

Von diesem begehrte der Kläger in der am 12.5.1989 eingelangten Klage ua ein Schmerzengeld von 1,000.000 S und eine Verunstaltungsentschädigung von 250.000 S. Infolge des zit Urteils des OLG Innsbruck schränkte er sein Begehren in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 2.2.1994 auf ein restliches Schmerzengeld von 300.000 S ein. Insgesamt stünde ihm nämlich ein Schmerzengeld von 1,400.000 S zu, von dem ihm bisher nur 1,100.000 S (gegen eine andere beklagte Partei) zuerkannt worden seien.

Der Beklagte stellte seine Haftung als "solidarischer Schuldner" nicht mehr in Abrede (S 2 d Revisionsbeantwortung), beantragte jedoch die Abweisung des eingeschränkten Schmerzengeldbegehrens, weil dieses überhöht sei.

Das Erstgericht gab dem eingeschränkten Klagebegehren statt. Ein Schmerzengeld von insgesamt 1,400.000 S sei den erhobenen Umständen angemessen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil durch Abweisung des Klagebegehrens ab; es sprach aus, daß die ordentliche Revision nach § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichtes seien die gesamten Schmerzengeldansprüche des Klägers durch die auf Grund des Urteils des OLG Innsbruck vom 8.1.1993 erfolgte Zahlung von 1,100.000 S abgegolten. Bei einer Schmerzengeldbemessung könne - entgegen der neuesten Rsp mehrerer Senate des Obersten Gerichtshofes - nicht völlig unberücksichtigt bleiben, ob ein Geschädigter die Folgen einer Verletzung bewußt erkennen und verarbeiten kann. Der Kläger reagiere zwar auf Schmerzreize; sein Bewußtsein sei aber nur auf einer niedrigen Stufe erhalten, so daß er die Schmerzempfindungen nicht bewußt verarbeiten könne. Der vorliegende Fall sei eher Fällen vergleichbar, in denen der Oberste Gerichtshof in den letzten Jahren ein Schmerzengeld von 1,000.000 S bzw 1,020.000 S zugesprochen habe.

In der außerordentlichen Revision macht der Kläger unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend; er beantragt in erster Linie, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

Rechtliche Beurteilung

Der Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben, ohne Einwendungen gegen die Zulässigkeit der außerordentlichen Revision zu erheben.

Die außerordentliche Revision ist zulässig. Die Entscheidung, ob dem Kläger insgesamt ein Schmerzengeld von 1,100.000 S oder von 1,400.000 S gebührt, hängt von der Lösung einer Rechtsfrage ab, der zur Wahrung der Rechtseinheit und Rechtssicherheit aus folgenden Gründen erhebliche Bedeutung zukommt: Das Berufungsgericht hat sich nämlich von der ua in den E 6 Ob 535, 1558/92, 8 Ob 581/92 und 2 Ob 66/92 = ZVR 1993/150 zum Ausdruck gebrachten übereinstimmenden Rechtsmeinung dreier Senate des Obersten Gerichtshofes distanziert, die in der letztgenannten E bereits als herrschende Rsp bezeichnet wird. Danach erleidet jemand, dem (durch eine Verletzung am Körper) die Erlebnisfähigkeit genommen wurde, einen schadenersatzrechtlich zumindest ebenso bedeutenden Nachteil an seiner Person wie durch eine Störung seines Wohlbefindens durch "Schmerz". Es sei daher keinesfalls gerechtfertigt, wegen der dem Verletzten entzogenen Lust-Schmerz-Erlebnisfähigkeit eine der Schwere des Eingriffes in seine Persönlichkeitsstruktur angemessene Entschädigung zu mindern.

Die Revision ist auch berechtigt.

Unter dem "jemandem an seiner Person zugefügten Nachteil" iS des § 1293 ABGB ist nach heutiger Auffassung nicht bloß eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit einer Person zu verstehen, sondern auch eine Beeinträchtigung der Entfaltungsmöglichkeit der ihr eigenen geistigen und emotionalen Anlagen als Teil ihrer Persönlichkeit. Daher ist ein Eingriff in die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der diese Persönlichkeit ausmachenden Potenzen schadenersatzrechtlich wie eine Körperverletzung zu behandeln. Ein haftungsbegründendes Verhalten, das im schadenersatzrechtlichen Sinn nachteilig auf die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen einwirkt, begründet deshalb auch einen Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens durch "ein den erhobenen Umständen angemessenes Schmerzengeld" nach § 1325

ABGB.

Der erkennende Senat schließt sich der in den E 23.4.1992, 6 Ob 535/92, 31.8.1992, 8 Ob 581/92, 25.11.1992, 2 Ob 60/92, 14.1.1993, 2 Ob 66/92 = ZVR 1993/150 und 9.9.1993, 8 Ob 607/93 vertretenen Rechtsansicht an, daß eine haftungsbegründende Einwirkung auf die Persönlichkeitsstruktur, die die Person außerstande setzt, Schmerz und Leid, aber auch Wohlbefinden und Freude zu empfinden, und sie damit elementarster menschlicher Empfindungen beraubt, für den darin gelegenen immateriellen Nachteil als solchen entschädiungspflichtig macht. Jemand, dem die Erlebnisfähigkeit genommen wird, erleidet einen schadenersatzrechtlich zumindest ebenso bedeutenden "Nachteil an seiner Person" = Schaden iS des § 1293 ABGB wie durch eine Störung seines Wohlbefindens durch "Schmerz". Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes ist es daher nicht gerechtfertigt, ein der Schwere des Eingriffes in die Persönlichkeitsstruktur des Klägers "angemessenes Schmerzengeld" wegen der entzogenen Lust-Schmerz-Erlebnisfähigkeit auch nur zu mindern.

Der Kläger ist infolge des vom Beklagten verschuldeten Unfalls körperlich und geistig schwerstens beeinträchtigt. Er mußte nicht nur einen Atem- und Herzstillstand in der Dauer von etwa vier Minuten erleiden, sondern befand sich fast drei Monate in Intensivpflegestationen und wiederholt in längerer stationärer Behandlung. Dabei kam es wegen der schwersten Kontrakturen auch zu operativen Eingriffen, im Rahmen der notwendigen Physikotherapie auch zu Oberschenkelbrüchen. Hüften, Knie und Füße sind kontaktiert, die Gelenke der oberen Extremität(en) teilkontraktiert; es bestehen ein hochgradiges spastisches Defektbild und ein apallisches Syndrom, ein Zustand absoluter Hilflosigkeit ohne Fähigkeit zu verbaler Kontaktaufnahme und willkürlichen Bewegungen. Aus dem bereits zit Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 8.1.1993 ergibt sich weiters, daß dem Kläger mehrmals täglich Schleim aus der Luftröhre abgesaugt werden muß, um ein ausreichendes Atmen zu gewährleisten. er muß gefüttert und gewickelt werden. Berücksichtigt man, daß dieser (nicht wesentlich besserungsfähige) Zustand bereits seit Mai 1986 besteht, dann erscheint den erhobenen Umständen ein Schmerzengeld von 1,400.000 S angemessen. Im einem zu 2 Ob 60/92 entschiedenen ähnlichen, aber nicht ganz so schweren Fall wurde ein Schmerzengeld von 1,300.000 S zuerkannt. Beim damaligen Kläger besteht nämlich eine bescheidene Verständigungsmöglichkeit mit der ihn pflegenden Mutter, Sprachverständnis ist in weiten Teilen vorhanden, er pflegt fernzusehen und kann auch einfache Rechenoperationen durchführen. In dem ebenfalls ähnlichen, aber etwas schwereren zu 2 Ob 66/92 entschiedenen Fall wurde der zur Unfallszeit knapp ein Monat alten damaligen Klägerin sogar ein Schmerzengeld von 1,500.000 S zugebilligt.

Da der Kläger vom angemessenen Schmerzengeld bereits 1,100.000 S erhalten hat, schuldet ihm der Beklagte noch 300.000 S.

Das erstgerichtliche Urteil ist daher wiederherzustellen.

Die Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte