Spruch:
Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Spittal an der Drau vom 10. September 2010, GZ 2 P 189/10b-9, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Leopoldstadt wird genehmigt.
Text
Begründung
Die in Wien wohnenden Eltern der beiden Minderjährigen erklärten sich in der Niederschrift vom 9. 1. 2008 gegenüber der Bezirkshauptmannschaft Spittal an der Drau (Bereich 6 - Soziales, Jugend und Familie) als Jugendwohlfahrtsträger (JWT), mit der Übertragung der Pflege und Erziehung ihrer - bereits seit Sommer 2007 bei den Großeltern in Kärnten untergebrachten - Zwillingskinder an die mütterliche Großmutter N*****, wohnhaft in *****, einverstanden. Dort könnten die Kinder „bis zur Änderung unserer [der elterlichen] Lebenssituation“ verbleiben. Dazu wurde festgehalten, dass die Eltern „momentan“ aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen nicht in der Lage seien, ihre Kinder zu versorgen. Unter Vorlage dieser Niederschrift teilte der JWT dem Bezirksgericht Spittal an der Drau am 11. 1. 2008 mit, dass „momentan kein weiterer Handlungsbedarf“ bestehe (ON 2).
Mit Verfügung gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB vom 2. 8. 2010 (AS 13) ordnete der JWT den „sofortigen Verbleib“ der minderjährigen Kinder bei der mütterlichen Großmutter in ***** an. Gleichzeitig wurde beim Bezirksgericht Spittal an der Drau mit Schriftsatz vom 4. 8. 2010 die Übertragung der gesamten Obsorge an die mütterliche Großmutter beantragt. Das Kindeswohl der Minderjährigen sei bei einer Erziehung durch die Eltern gefährdet, weil in Wien kein soziales oder familiäres Netzwerk zur Verfügung stehe, das die Kinder im Krisenfall schützen könne. Die Mutter befinde sich seit einigen Wochen wieder in einer akuten Krankheitsphase der - bereits 1994 diagnostizierten - paranoiden Schizophrenie, die zur zwangsweisen Einweisung in das Krankenhaus B***** geführt habe, während der Vater keine klaren Angaben machen könne, in welchem der beiden Haushalte in Wien die Kinder [in Zukunft] leben und wie sie im Krankheitsfall der Mutter versorgt würden (ON 3).
Trotz dieser Verfügung wurden die Kinder am 11. 8. 2010 (nachdem der Vater zusagt hatte, die Kinder zur Gerichtsverhandlung vor dem Bezirksgericht Spittal an der Drau am 25. 8. 2010 wieder nach Kärnten zu bringen) vom Vater nach Wien mitgenommen, wo sie am 13. 8. 2010 mit ihren Elten Geburtstag feierten.
Die in der Folge vom Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Bezirk 2, durchgeführten Erhebungen ergaben zunächst (am 13. 8. 2010), dass die Eltern gesprächsbereit waren und die Stimmung zwischen Eltern und Kindern „in Ordnung“ war. Am 19. 8. 2010 hinterließen die Eltern jedoch anlässlich einer Vorsprache in der Abendsprechstunde des Amtes für Jugend und Familie, Bezirk 2, folgenden Eindruck:
Die Mutter wirkte in ihrem Verhalten „auffällig“ und ein konstruktives Gespräch über die „äußerst verwirrend“ angegebene Familiensituation war nicht möglich. Die Eltern verließen mit den Kindern „aufgeregt“ die Regionalstelle, „ohne eine weitere Vereinbarung getroffen zu haben“.
Am Nachmittag des nächsten Tages erfolgte nach Rücksprache zwischen den beiden JWT (in Wien und Kärnten) und mit dem zuständigen Arzt des Krankenhauses B***** (der angab, dass bei der Mutter ohne die Einnahme von Medikamenten die Gefahr psychotischer Schübe bestehe) sowie mit der mütterlichen Großmutter (die beim Skypen mit den Kindern am 20. 8. 2010 den Eindruck gewonnen hatte, dass die Situation der Eltern sehr „angespannt“ sei und es den Kindern „nicht gut“ gehe) ein Hausbesuch durch den Wiener JWT „mit Polizeiassistenz“. Dabei gab der Vater an, dass es sich um ein Missverständnis handle, weil es eine Vereinbarung gebe, dass die Kinder in Wien sein dürften; die Kinder konnten aber schließlich ohne Zwang in das Krisenzentrum mitgenommen werden und wurden von dort durch die Großmutter abgeholt.
Bei der Gerichtsverhandlung am 25. 8. 2010, an der ein Vertreter des JWT, die mütterliche Großmutter, die Eltern (mit ihrem Vertreter) und die Kinder teilnahmen, hob das Bezirksgericht Spittal an der Drau die vom JWT am 2. 8. 2010 angeordnete Maßnahme gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB auf, weil nach dem persönlichen Eindruck des Richters eine akute Kindeswohlgefährdung (also Gefahr in Verzug, die den Verbleib der Kinder in der Obhut der mütterlichen Großeltern rechtfertigen würde) nicht vorlag. Der Richter führte aus, dass im Zuge des fortzusetzenden Obsorgeverfahrens ein fachärztliches Gutachten dahingehend einzuholen sein werde, inwiefern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl der Kinder gefährden. Um ein solches verlässlich erstellen zu können, sei es sinnvoll Wahrnehmungen dahin zu machen, wie die Eltern mit der Betreuung der Kinder zu Recht kommen.
Nach Zustellung der Protokollabschriften wurde das Bezirksgericht Spittal an der Drau mit Schriftsatz des Elternvertreters vom 9. 9. 2010 (ON 8) und auch vom „Jugendamt Spittal“ (telefonisch) darüber informiert, dass die beiden Kinder schon seit Ende August 2010 wieder bei ihren Eltern in Wien sind, wo sie nunmehr die Schule besuchen.
Mit (laut AV vom 11. 10. 2010 seit 7. 10. 2010 rechtskräftigem) Beschluss vom 10. 9. 2008 (ON 9) übertrug das Bezirksgericht Spittal an der Drau daraufhin die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache gemäß § 111 Abs 1 und 2 JN an das Bezirksgericht Leopoldstadt. Dieses lehnte die Übernahme des Pflegschaftsverfahrens „aufgrund des offenen Antrags“ ab. Überdies kenne der Richter des Bezirksgerichts Spittal an der Drau die Parteien und die Kinder bereits, sodass eine Zuständigkeitsübertragung „zu diesem Zeitpunkt untunlich“ erscheine.
Rechtliche Beurteilung
Das Bezirksgericht Spittal an der Drau legte den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung im Sinn des § 111 Abs 2 JN vor.
Die Übertragung ist berechtigt.
Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird. Nach Abs 2 dieser Bestimmung ist die Übertragung nur dann wirksam, wenn das andere Gericht die Zuständigkeit übernimmt oder im Falle der Weigerung des anderen Gerichts eine Genehmigung durch das den beiden Gerichten zunächst übergeordnete gemeinsame höhere Gericht - hier der Oberste Gerichtshof - erfolgt.
Ausschlaggebendes Kriterium für die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache für Minderjährige ist immer das Kindeswohl (RIS-Justiz RS0047074). Nach ständiger Rechtsprechung wird der pflegschaftsgerichtliche Schutz in der Regel am besten durch das Gericht gewährleistet, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält (7 Nc 3/09i mwN uva). Offene Anträge sprechen im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung, sofern nicht dem übertragenden Gericht für die ausstehende Entscheidung besondere Sachkenntnis zukommt (RIS-Justiz RS0047032).
Der Aufenthalt des Pflegebefohlenen mit einem erziehungsberechtigten Elternteil in einem anderen Gerichtssprengel muss (zwar) nicht in allen Fällen die Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 Abs 1 JN zur Folge haben, doch wird es - wie bereits ausgeführt - in der Regel den Interessen des pflegebefohlenen Kindes entsprechen, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel sein gewöhnlicher Aufenthalt und der Mittelpunkt seiner Lebensführung liegt (RIS-Justiz RS0047300).
Die ständige Rechtsprechung steht zwar einer Zuständigkeitsübertragung dann ablehnend gegenüber, wenn ein Obsorgeantrag unerledigt ist, weil noch nicht feststeht, ob das Kind überhaupt im Sprengel des Gerichts bleiben werde, an das die Zuständigkeit übertragen werden soll (RIS-Justiz RS0047027); doch ist eine Entscheidung durch das bisher zuständige Gericht nur dann sinnvoll, wenn das Gericht bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht. Nur dann ist es für den Pflegebefohlenen von Vorteil, dass das bisher zuständige Gericht über den Obsorgeantrag entscheidet. Ist etwa - wie hier - die aktuelle Lebenssituation der Mutter und ihr Gesundheitszustand zu prüfen, können diese für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände effizienterweise nur vom nunmehrigen Wohnsitzgericht von Mutter und Kind erhoben werden (zu allem: 7 Nc 16/10b mwN).
Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass vom befassten Bezirksgericht bisher nur geprüft wurde, ob die vom JWT Bezirkshauptmannschaft Spittal an der Drau, angeordnete Maßnahme gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB vom 2. 8. 2010 aufzuheben sei, was mit Beschluss vom 25. 8. 2010 (ON 7) schon geschehen ist. Keines der Gerichte hat also bereits Kenntnis über die für die Obsorgeentscheidung relevanten (weiteren) Kriterien, insbesondere die Frage, wie die Eltern im häuslichen Umfeld mit der Betreuung der Kinder zu Recht kommen. Die Minderjährigen wohnen aber nunmehr (wieder) bei Vater und Mutter, die ihre Kinder in Zukunft bei sich betreuen werden. Demgemäß haben die Kinder im September 2010 ihren Schulbesuch in Wien begonnen.
Der Lebensmittelpunkt der Minderjährigen liegt also im Sprengel des Bezirksgerichts Leopoldstadt. Dies ist im Sinn der dargelegten Erwägungen ausschlaggebend, weil dieses Gericht, in dessen Sprengel Eltern und Kinder ihren Wohnsitz haben, die für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände effizienter erheben kann (vgl 7 Nc 16/10b). In diesem Sinn sprechen Gründe des Kindeswohls dafür, dass als Pflegschaftsgericht das Gericht tätig wird, in dessen Sprengel der gewöhnliche Aufenthalt und der Mittelpunkt der Lebensführung der Kinder liegt (10 Ob 16/10z mwN).
Die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht des Aufenthaltsorts der Kinder ist daher zu genehmigen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)