EGMR Bsw75951/01

EGMRBsw75951/019.12.2008

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Viasu gegen Rumänien, Urteil vom 9.12.2008, Bsw. 75951/01.

 

Spruch:

Art. 1 1. Prot. EMRK, Art. 41 EMRK, Art. 46 EMRK - Unzulänglichkeit des rumänischen Restitutionsmechanismus.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Zuspruch einer Pauschalsumme von €

115.000,- (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der 2006 verstorbene Bf. war Eigentümer eines in der Gemeinde Catunele (Bezirk Gorj) gelegenen Grundstücks im Ausmaß von 18,62 ha. 1962 wurde er vom Staat gezwungen, seinen Grund und Boden an die örtliche Agrarproduktionsgemeinschaft abzutreten. Ab 1980 baute eine staatliche Minengesellschaft auf einer Fläche von insgesamt 16,63 ha Kohle ab.

Nach dem Fall des kommunistischen Regimes 1989 beantragte der Bf. unter Berufung auf das Gesetz Nr. 18/1991 (Anm.: Mit diesem Gesetz wurde ein Recht von Grundeigentümern auf Rückgabe ihres konfiszierten Grund und Bodens eingeführt. Es erfuhr zahlreiche Änderungen und ist nach wie vor in Kraft) die Rückgabe seines Grund und Bodens. In der Folge wurde ihm der von der Minengesellschaft nicht genutzte Teil des Grundstücks rückübereignet.

Beginnend mit 2000 stellte der Bf. mehrere Anträge auf Übereignung eines Grundstücks, das von der Fläche her dem von der Minengesellschaft genutzten entsprach, bzw. - hilfsweise - auf Zahlung einer Entschädigung. Im Juni wurde er vom Bürgermeister der Gemeinde Catunele von der Entscheidung der für die Umsetzung des Gesetzes Nr. 1/2000 (Anm.: Das Gesetz Nr. 1/2000, mit dem das Gesetz Nr. 18/1991 geändert wurde, legte die Gewährung einer Entschädigung für den Fall fest, dass eine Naturalrestitution nicht möglich war, ferner sah es die amtliche Registrierung von berechtigten Forderungen durch Grundeigentümer vor) zuständigen Kommission informiert, ihm eine Parzelle im Ausmaß von 10,42 ha zu übereignen bzw. Eigentumsentschädigung zu gewähren, sollte nicht ausreichend Grund und Boden zur Verfügung stehen. Kurze Zeit später erhielt er Nachricht, dass er Anrecht auf ein weiteres - 6,21 ha umfassendes - Grundstück habe.

Am 6.10.2000 wurde der Bf. vom Bürgermeister darüber in Kenntnis gesetzt, dass kein Grundstück für ihn zur Verfügung stehe und er sich in Sachen Entschädigung an die Minengesellschaft wenden möge. Letztere wies seine Entschädigungsanträge mit der Begründung zurück, sie nutze das Grundstück nach wie vor zur Kohlegewinnung. Von den zuständigen Behörden wurde der Bf. wiederholt darüber informiert, es könne ihm keine Entschädigung gewährt werden, da das Gesetz Nr. 1/2000 hinsichtlich der Gewährung einer solchen keine präzisen Vorgaben, was die Modalitäten und die finanziellen Mittel angehe, enthalte.

Der Bf. wandte sich daraufhin in regelmäßigen Abständen an die Bezirkverwaltungsbehörden und beantragte erfolglos die Auszahlung einer Entschädigung. 2001 bescheinigte ihm die Bezirksverwaltungsbehörde Gorj, er habe Anspruch auf Grund und Boden im Ausmaß von insgesamt 16,63 ha und könne gegen den Staat eine entsprechende Forderung gemäß dem Gesetz Nr. 18/1991 geltend machen. 2002 wurde der Bf. von der für die Umsetzung des Gesetzes Nr. 18/1991 zuständigen Kommission verständigt, seine Forderung sei für rechtsgültig befunden und in das amtliche Register aufgenommen worden.

Bis zum heutigen Tag erfolgte weder eine Rückgabe des Landes noch Ersatz dafür.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, er sei ungeachtet der Anerkennung seiner vermögensrechtlichen Ansprüche durch die Behörden nicht in den Genuss einer Entschädigung gekommen, was eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Eigentums nach Art. 1 1. Prot. EMRK darstelle.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 1. 1. Prot. EMRK:

1. Zur Zulässigkeit:

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK offensichtlich unbegründet ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Es ist unbestritten, dass der Bf. einen vom nationalen Recht anerkannten Restitutionsanspruch und somit ein vermögenswertes Interesse iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK hatte. Die fehlende Umsetzung der behördlich angeordneten Rückgabe seines Grund und Bodens bzw. (für den Fall, dass eine solche nicht möglich sei) der Zahlung einer Entschädigung begründete daher einen Eingriff in sein Eigentumsrecht. Zu prüfen ist, ob dieser iSv. Art. 1 Abs. 1 erster Satz 1. Prot. EMRK gerechtfertigt war.

Im vorliegenden Fall vergingen mehr als acht Jahre, nachdem die Behörden die Rückgabe von Land im Ausmaß von 16,63 ha angeordnet hatten, und mehr als sechs Jahre seit der Eintragung in das Forderungsverzeichnis, ohne dass es zum Vollzug der einschlägigen behördlichen Entscheidungen oder zumindest zur Zahlung einer Entschädigung gekommen wäre. Der Bf. wurde somit am Genuss seines Eigentums für mehrere Jahre gehindert.

Die Regierung brachte zu ihrer Rechtfertigung organisatorische Schwierigkeiten vor, denen man beim Vollzug der Restitutionsgesetze begegnet wäre. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass diese direkte Folge einer Reihe von Gesetzesänderungen betreffend die Ausgestaltung des Entschädigungsmechanismus waren. Der GH hat in einer Reihe von gegen Rumänien ergangenen Urteilen festgehalten, dass diese Änderungen sich in der Praxis als ineffektiv erwiesen und zu einem Klima der Rechtsunsicherheit beitrugen. Die rumänischen Gerichte einschließlich des Obersten Gerichtshofs haben diesen Zustand übrigens bedauert und - ohne nennenswerten Erfolg - versucht, die Ungewissheit dieser rechtlichen Situation zu beseitigen und die mangelnde Sorgfaltspflicht der Behörden auf diesem Gebiet zu ahnden. Die Regierung hat keinerlei Begründung geliefert, warum dem Bf. sein Eigentumsrecht vorenthalten wurde. Der GH sieht sich daher zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass die fragliche Situation ihren Ursprung in einer exzessiven und weitgehend ineffektiven legislativen Tätigkeit nahm.

Unter diesen Umständen wurde, auch unter der Annahme, der Eingriff in die Eigentümerrechte des Bf. sei gesetzlich vorgesehen gewesen und hätte einem öffentlichen Bedürfnis gedient, kein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Eigentums des Bf. und dem allgemeinen Interesse gewahrt und ihm eine individuelle und übermäßige Last aufgebürdet. Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Zu Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile):

Die festgestellte Konventionsverletzung hat ihre Ursache in einem Versagen der rumänischen Gesetzgebung bzw. der damit einhergehenden Verwaltungspraxis, von der eine große Zahl von Restitution suchenden Personen betroffen ist. Seit Ergang seines Urteils im Fall Brumarescu/RO hat der GH Dutzende von Urteilen erlassen, in denen er eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK wegen Unvereinbarkeit des Restitutionsmechanismus mit dem Recht von Grundeigentümern auf Rückgabe ihres unter dem kommunistischen Regime konfiszierten Eigentums festgestellt hat. Vor dem GH sind derzeit mehr als hundert Beschwerden von durch die Restitutionsgesetze betroffenen Personen anhängig, was nicht nur einen erschwerenden Faktor hinsichtlich der Verantwortung der Staaten nach der Konvention, sondern auch eine Bedrohung für die Effektivität des Beschwerdesystems darstellt. Der GH hält es insofern für angebracht, Rumänien Wege aufzuzeigen, wie dieser Situation ein Ende gemacht werden könnte. Der rumänische Staat sollte im Wege der Ergreifung geeigneter rechtlicher und verwaltungstechnischer Maßnahmen für die effektive und rasche Befriedigung von Restitutionsansprüchen Sorge tragen. Dies könnte entweder in Form einer Naturalrestitution oder einer Entschädigung im Sinne der vom GH in diesem Bereich aufgestellten Prinzipien geschehen. Vorstellbar wäre etwa eine Ersetzung des aktuellen Restitutionsmechanismus durch ein vereinfachtes und wirksames Eilverfahren, um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Interessen herzustellen.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Der Bf. hat beträchtliche materielle und immaterielle Nachteile erlitten, die durch die Feststellung einer Konventionsverletzung nicht beseitigt werden können. Angesichts seiner Erörterungen zur Unzulänglichkeit des aktuellen Restitutionssystems sieht der GH keine andere Möglichkeit, als dem Bf. eine Pauschalsumme in Höhe von €

115.000,- zuzusprechen, die einer innerstaatlichen Regelung der Angelegenheit entsprechen würde (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Brumarescu/RO v. 28.10.1999 (GK), NL 1999, 185.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.12.2008, Bsw. 75951/01, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 360) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_6/Viasu.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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