EGMR Bsw5980/07

EGMRBsw5980/076.7.2010

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Abdullah Öcalan gegen die Türkei, Zulässigkeitsentscheidung vom 6.7.2010, Bsw. 5980/07.

 

Spruch:

Art. 6, 46 EMRK - Vollzug eines EGMR-Urteils.

Unzulässigkeit der Beschwerde bezüglich Art. 46 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde bezüglich Art. 6 EMRK (einstimmig)

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. war Führer der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und ist derzeit in einem türkischen Gefängnis inhaftiert.

Im Februar 1999 wurde der Bf. in Kenia verhaftet und aufgrund von separatistischen Aktivitäten in Bezug auf bestimmte Teile des Staatsgebiets vor dem Staatssicherheitsgericht Ankara angeklagt. Er gab zu, Gründer und Anführer der PKK zu sein und bestätigte die Anzahl der in den bewaffneten Aktionen der PKK Verwundeten und Verletzten bzw. gab an, dass diese Zahlen sogar höher seien als vermutet. Weiters sei er bereit, zu kooperieren und den bewaffneten Kämpfen ein Ende zu setzen. Seine Intentionen hätten sich inzwischen dahingehend geändert, dass er nur mehr Autonomie oder Anerkennung der kulturellen Rechte der Kurden in einer demokratischen Gesellschaft fordere.

Aufgrund einer Verfassungsänderung saß ab dem 23.6.1999 ein anderer Richter anstelle des Militärrichters zu Gericht, da Militärrichter von der Besetzung des Staatssicherheitsgerichts ausgeschlossen wurden. Am 29.6.1999 wurde der Bf. schuldig gesprochen, separatistischen Tätigkeiten nachgegangen zu sein, um einen marxistisch-leninistischen kurdischen Staat zu gründen, und eine terroristische Gruppierung gegründet und geleitet zu haben. Über ihn wurde gemäß Art. 125 Strafgesetz die Todesstrafe verhängt.

Das Kassationsgericht bestätigte diese Entscheidung am 22.11.1999.

Im August 2002 wurde in der Türkei die Verhängung der Todesstrafe in Friedenszeiten verboten. Mit Entscheidung vom 3.10.2002 wandelte das Staatssicherheitsgericht Ankara die Strafe des Bf. daher in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe um, wobei es feststellte, die strafbaren Handlungen des Bf. wären terroristische Akte, die zu Friedenszeiten verübt worden seien.

In einer endgültigen Entscheidung der Großen Kammer vom 12.5.2005 (Anm.: Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK), NL 2005, 117.) stellte der EGMR fest, dass das Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht nicht mit den Anforderungen des Art. 6 EMRK vereinbar war. Grund dafür war unter anderem der mangelnde Zugang des Bf. zu seinen Anwälten sowie die Beeinträchtigung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts durch die Anwesenheit eines Militärrichters. Unter Art. 46 EMRK sprach der EGMR die Empfehlung aus, das Verfahren zu erneuern oder wiederaufzunehmen, um die Verletzung wiedergutzumachen.

Aufgrund einer Verfassungsbestimmung, die die Wiederaufnahme oder Erneuerung von Verfahren in Sachen, die vor dem 4.2.2003 vor den EGMR gebracht wurden, ausschl0ss, wies das Schwurgericht Ankara das Ansuchen des Bf. auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens am 5.5.2006 zurück. Diese Entscheidung wurde jedoch am 21.6.2006 durch das Schwurgericht Istanbul aufgehoben. Das Gericht verwies auf den bindenden Charakter des EGMR-Urteils und die Verpflichtungen der Türkei gemäß Art. 46 EMRK, welche der türkischen Verfassung zufolge dem nationalen Recht vorgingen. Nach Prüfung der Akten und Argumente der Vertreter des Bf. kam es jedoch zu dem Ergebnis, dass keine weiteren Ermittlungen oder mündlichen Verhandlungen nötig seien, um über den Fall zu entscheiden. Auch wenn die vom EGMR festgestellten Verletzungen nicht stattgefunden hätten, wäre die Verurteilung des Bf. auf gleiche Weise erfolgt. Der Antrag des Bf. wurde daher abgewiesen.

Am 15.2.2007 stellte das Ministerkomitee des Europarats fest, dass die Türkei ihre Verpflichtungen unter Art. 46 EMRK erfüllt habe, und beschloss, die Prüfung der Durchsetzung des EGMR-Urteils vom 12.5.2005 einzustellen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) und Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Vollzug der Urteile), da das Urteil des GH vom 12.5.2005 nicht korrekt vollzogen worden sei, indem die Wiederaufnahme des Strafverfahrens verweigert wurde. Der GH beschließt, diesen Beschwerdepunkt nur unter dem Aspekt des Art. 46 EMRK zu prüfen.

Ferner rügt der Bf., das Verfahren vor dem Schwurgericht Istanbul habe Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) verletzt.

I. Zur Zulässigkeit der Beschwerde betreffend Art. 46 EMRK

Es ist Aufgabe des Ministerkomitees – und nicht des GH – den Vollzug der Urteile durch die Vertragsstaaten zu überwachen. Es ist jedoch möglich, dass die Maßnahmen, die ein Staat, in Bezug auf den eine Konventionsverletzung festgestellt wurde, zur Wiedergutmachung ergreift, ein neues Problem aufwerfen und somit Gegenstand einer erneuten Beschwerde vor dem GH werden.

Die Staaten sind grundsätzlich frei bezüglich der Wahl der Mittel, mit denen sie ihren Verpflichtungen unter Art. 46 EMRK entsprechen möchten, solange diese mit den Feststellungen des Urteils vereinbar sind. In manchen Fällen hielt es der GH jedoch für angemessen, die Art der Maßnahmen anzuzeigen, mit denen eine Situation beendet werden soll, die Anlass für die Feststellung einer Verletzung war. Zuweilen ließ die Natur der Verletzung auch keine Wahl in Bezug auf die zu ergreifenden Maßnahmen.

Der GH hat nicht die Kompetenz, die Wiederaufnahme eines Verfahrens konkret anzuordnen. Er kann jedoch anzeigen, dass dies ein geeignetes Mittel ist, um eine Verletzung von Art. 6 EMRK wiedergutzumachen. Der GH hat bereits festgestellt, dass die zu ergreifenden Entschädigungsmaßnahmen von den speziellen Umständen eines Falles abhängen, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass der Staat unter Umständen von der Ergreifung solcher Maßnahmen gänzlich befreit wird.

Im vorliegenden Fall stellte das Ministerkomitee fest, dass die erneute Prüfung des Falles durch das Schwurgericht Istanbul die Verpflichtung der Türkei unter Art. 46 EMRK erfüllt hat. Dabei nahm es auf alle Elemente des Aktes Bezug, insbesondere auf die im Urteil des GH vom 12.5.2005 enthaltenen Anordnungen bezüglich der individuellen Entschädigungsmaßnahmen, sowie auf die Entscheidung des Schwurgerichts Instanbul vom 21.6.2006 bezüglich der neuerlichen Prüfung der Akten und der Verweigerung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens.

Der Bf. hat keine neuen sachlichen oder rechtlichen Elemente vorgebracht und auch das strittige Verfahren zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs brachte solche nicht zutage.

Der vorliegende Fall unterscheidet sich diesbezüglich vom Fall Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/CH (Nr. 2), in dem das Ministerkomitee die Überwachung der Durchführung des Urteils einstellte, ohne auf die Entscheidung des Bundesgerichts Bezug zu nehmen, mit der eine Revision abgelehnt wurde und die teils auf das Bestehen neuer Tatsachen gestützt war.

Da der GH diesen Beschwerdepunkt nicht prüfen kann, ohne in die Kompetenzen des Ministerkomitees einzugreifen, erklärt er ihn für unvereinbar ratione materiae mit den Bestimmungen der EMRK iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK. Der Beschwerdepunkt ist somit unzulässig gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

II. Zur Zulässigkeit der Beschwerde betreffend Art. 6 EMRK

Der Bf. behauptet, das Verfahren bezüglich seines Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens sei insofern nicht fair gewesen, als das Schwurgericht keine mündliche Verhandlung abgehalten und die komplexe Sache keiner genauen Prüfung unterzogen habe. Außerdem habe er seine Anwälte nicht ausreichend beiziehen können und ihm sei keine Gelegenheit gegeben worden, die Lücken des Verfahrens auszugleichen, das zu seiner Verurteilung geführt hat.

Der GH prüft zunächst, ob Art. 6 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist. Er erinnert, dass gemäß seiner Rechtsprechung eine Person, die die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens beantragt und deren Verurteilung bereits rechtskräftig ist, nicht iSv. Art. 6 EMRK einer »strafbaren Handlung angeklagt« ist. Diese Bestimmung ist hier daher nicht anwendbar.

Genauso wenig ist Art. 6 EMRK im Falle einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes anwendbar, die die Aufhebung einer rechtskräftigen Verurteilung bezweckt und infolge einer festgestellten Konventionsverletzung erhoben wird.

Der GH ist der Meinung, dass das Verfahren betreffend den Antrag des Bf., dass sein Fall infolge einer Konventionsverletzung neu verhandelt werde, ähnlich oder zumindest vergleichbar ist mit den Verfahren zur Wiederaufnahme oder einer Revision von Strafverfahren nach türkischem Recht. Sie wurde von einer Person beantragt, deren Verurteilung bereits rechtskräftig war und betrifft keine Angelegenheit, die Anklagen von strafbaren Handlungen beinhaltet. Gegenstand ist die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Wiedereröffnung des Strafverfahrens gegeben sind.

Art. 6 EMRK ist daher nicht anwendbar. Der Beschwerdepunkt ist mit der Konvention unvereinbar ratione materiae iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und wird gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK für unzulässig erklärt (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Mehemi/F (Nr. 2) v. 10.4.2003.

Fischer/A v. 6.5.2003 (ZE), NL 2003, 129; ÖJZ 2003, 816.

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK), NL 2005, 117; EuGRZ 2005, 463.

Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/CH (Nr. 2) v. 30.6.2009 (GK), NL 2009, 169.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 6.7.2010, Bsw. 5980/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 209) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/Ocalan.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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