Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 9 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 4 7. Prot. EMRK - Verbot religiöser Symbole in öffentlichen Schulen.
Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK, Art. 9 EMRK und Art. 10 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK in den Fällen Aktas/F, Ghazal/F, Jasvir Singh/F und Ranjit Singh/F (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK in den Fällen Ghazal/F, Jasvir Singh/F und Ranjit Singh/F (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK im Fall Gamaleddyn/F (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK in den Fällen Aktas/F und Gamaleddyn/F und von Art. 6 EMRK im Fall Bayrak/F (einstimmig).
Begründung
Sachverhalt:
Bei den Bf. bzw. den von diesen vertretenen Minderjährigen handelt es sich um vier Musliminnen und um zwei junge Männer, die der Religion der Sikh angehören. Am ersten Tag des Schuljahres 2004/05 erschienen sie alle mit einer religiösen Kopfbedeckung bekleidet in ihren Schulen. Die Jungen trugen einen „Keski", einen speziellen Turban der Sikhs, die Mädchen ein muslimisches Kopftuch. Die Direktoren ihrer Schulen forderten sie auf, ihre Kopfbedeckungen abzunehmen, weil sie davon ausgingen, diese würden gegen die gesetzlichen Regelungen verstoßen, die Schülern das Tragen von ihre Religionszugehörigkeit ostentativ widerspiegelnden Kleidungsstücken oder Zeichen verbieten. Als sich die Schüler weigerten, wurde ihnen der Zugang zu den Klassenzimmern untersagt. In der Folge geführte Gespräche mit den Schülern und deren Eltern blieben ohne Erfolg, drei der Mädchen entschieden sich lediglich, statt der Kopftücher Kappen zu tragen. Schließlich wurden gegen alle sechs Schüler Disziplinarverfahren eingeleitet, die mit ihrem definitiven Schulausschluss wegen Missachtung des Unterrichtsgesetzes endeten.
Nachdem diese Entscheidungen von den Direktoren der jeweiligen Akademie bestätigt worden waren, beantragten die Bf. deren Aufhebung bei den Verwaltungsgerichten, die die Berufungen jedoch in erster und zweiter Instanz abwiesen. Um Revision beim Conseil d'Etat einreichen zu können, stellten die Bf. in den Fällen Aktas, Gamaleddyn und Bayrak Anträge auf Verfahrenshilfe, die jedoch wegen Fehlens ernsthafter Nichtigkeitsgründe abgewiesen wurden. Im Fall Aktas wurde dennoch Revision beantragt, ebenso wie in den Fällen Jasvir Singh, Ranjit Singh sowie Ghazal. Der Conseil d'Etat bestätigte jedoch in allen Fällen die Urteile der Verwaltungsgerichte.
In ihren Entscheidungen gingen die nationalen Behörden davon aus, dass sich die Schüler, indem sie sich weigerten, Kopftuch, Kappe bzw. Keski abzulegen, ostentativ zu ihrer Religion bekennen wollten und damit gegen die rechtlichen Bestimmungen verstießen. Der Keski sei zwar weniger auffällig als der traditionelle Turban, könne jedoch nicht als diskretes Zeichen angesehen werden.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen in unterschiedlichem Umfang Verletzungen von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 9 EMRK (Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit), Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit), Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung) und Art. 4 7. Prot. EMRK (Verbot der Doppelbestrafung).
Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 8, Art. 9 und Art. 10 EMRK:
In der Untersagung, ein Kopftuch, eine Kappe oder einen Turban zu tragen, bzw. im Schulausschluss sehen die Bf. eine Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit, ein Teil von ihnen zudem eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens bzw. der Meinungsäußerungsfreiheit. Wegen des religiösen Bezugs prüft der GH diese Beschwerdepunkte nur unter Art. 9 EMRK.
Der Rechtsprechung des GH zufolge ist das Tragen eines Kopftuchs bzw. eines in der Sikh-Religion üblichen Turbans als ein religiös motivierter Akt zu werten. Die Untersagung, ein die Religionszugehörigkeit repräsentierendes Symbol zu tragen – auch eine Kappe, wenn damit einer Glaubensverpflichtung entsprochen wird – sowie die an deren Nichtbefolgung geknüpften Sanktionen stellten demnach im vorliegenden Fall eine Beschränkung des Rechts der Betroffenen auf Manifestation ihrer Religion nach Art. 9 Abs. 2 EMRK dar. Dieser Eingriff war durch das Unterrichtsgesetz gesetzlich vorgesehen und verfolgte die legitimen Ziele, die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen und die öffentliche Ordnung zu wahren. Zu prüfen bleibt, ob er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Art. 9 EMRK garantiert verschiedene Formen der Manifestation einer Religion oder eines Glaubens. Er schützt aber nicht jede religiös motivierte oder vorgegebene Handlung. Die Existenz mehrerer Religionen in einer demokratischen Gesellschaft kann es erfordern, die Religionsfreiheit zu beschränken, um Ausgleich und Toleranz zwischen den einzelnen Gruppen zu schaffen, wobei dem Staat die Aufgabe eines neutralen Organisators zukommt. Soweit das Verhältnis zwischen Staat und Religion betroffen ist, ist die Rolle des nationalen Entscheidungsträgers von besonderer Bedeutung. Dies gilt vor allem auch hinsichtlich der Regelung des Tragens von religiösen Symbolen in schulischen Einrichtungen. Der Staat kann die Freiheit, sich zu einer Religion zu bekennen, einschränken, wenn diese mit dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer oder der öffentlichen Ordnung und Sicherheit kollidiert.
Die Fälle Dogru/F und Kervanci/F betrafen die Untersagung des Tragens des islamischen Kopftuchs während des Turnunterrichts an öffentlichen Schulen in Frankreich. Der GH stellte hier fest, dass die Einschränkung des Rechts, seinen Glauben zu bekunden, zum Ziel hatte, den Anforderungen des Säkularismus an öffentlichen Schulen gerecht zu werden. Wie er aus verschiedenen Quellen ableitete, war das Tragen religiöser Symbole nicht an sich unvereinbar mit dem Prinzip des Säkularismus in schulischen Einrichtungen, wurde dies aber unter den Umständen, unter denen diese Zeichen getragen wurden, sowie durch die damit möglicherweise einhergehenden Konsequenzen. Im Rahmen ihres Ermessensspielraums haben die staatlichen Behörden mit großer Sorgfalt und unter Beachtung des Pluralismus und der Freiheit anderer darauf zu achten, dass Schüler ihren religiösen Glauben nicht in einer Weise manifestieren, die ostentativ und Quelle für Druck und Ausgrenzung ist. Dies schien dem GH auch Ziel des französischen Laizitätsmodells zu sein. Er stellte außerdem fest, dass der Säkularismus in Frankreich ein Prinzip der Verfassung darstellt, an dem die Bevölkerung festhält und dessen Schutz vor allem in Schulen besondere Bedeutung zukommt und dass ein diesem Grundsatz widersprechendes Verhalten daher nicht notwendigerweise von der Freiheit des Art. 9 EMRK umfasst sein muss. In Anbetracht des staatlichen Ermessensspielraums bei der Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat erschien dem GH eine Beschränkung der Religionsfreiheit zugunsten des Säkularismus gerechtfertigt.
Auch wenn der umstrittene Eingriff in den vorliegenden Fällen nicht auf den Turnunterricht beschränkt, sondern – wie von den neuen gesetzlichen Regelungen vorgesehen – auf den gesamten Unterricht bezogen war, sieht der GH keinen Grund, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Das Verbot jeglicher auffälliger religiöser Zeichen in öffentlichen Schulen gründete einzig auf dem Schutz des verfassungsmäßigen Prinzips des Säkularismus – ein Ziel, das mit der Konvention und der Rechtsprechung des EGMR in Einklang steht.
Was das Argument der Bf. betrifft, Kopftuch, Kappe oder Keski seien keine auffälligen, Druck ausübenden Zeichen, fällt diese Beurteilung nach Meinung des GH gänzlich in den Ermessensspielraum des Staates. Die Behörden konnten das dauerhafte Tragen derartiger Kleidungsstücke also durchaus als offenkundige Manifestation der Religionszugehörigkeit und das Verhalten der Schüler daher als Gesetzesverstoß werten. In Anbetracht der gegebenen Rechtslage, der zufolge auch die Möglichkeit bestehen muss, auf neue Symbole und die eventuelle Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen zu reagieren, hält der GH die Auffassung der Behörden für angemessen.
Der Ausschluss aus einer öffentlichen Schule erscheint unter diesen Umständen als Sanktion nicht unverhältnismäßig. Die Betroffenen hätten ihre Schulbildung mittels Fernunterricht oder in einer Privatschule fortsetzen können. Die strittigen Entscheidungen waren auf den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sowie der öffentlichen Ordnung gegründet und nicht gegen die religiöse Überzeugung der Schüler gerichtet, die von den Behörden in vollem Umfang berücksichtigt wurde.
Aufgrund dieser Umstände und des staatlichen Ermessensspielraums waren die Eingriffe gerechtfertigt und verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen. Dieser Teil der Beschwerden ist daher nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK in den Fällen Aktas/F, Ghazal/F, Jasvir Singh/F und Ranjit Singh/F:
Die umstrittenen gesetzlichen Regelungen sind nicht im Besonderen auf die Zugehörigkeit der Betroffenen zu einer Religion, sondern in erster Linie auf die Aufrechterhaltung der Ordnung und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gerichtet. Sie dienen der Erhaltung des neutralen und säkularen Charakters schulischer Einrichtungen und sind auf alle auffälligen religiösen Symbole anwendbar. Die Behauptung einer Diskriminierung ist somit offensichtlich unbegründet und dieser Beschwerdepunkt zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK in den Fällen Ghazal/F, Jasvir Singh/F und Ranjit Singh/F:
Der das Recht auf Bildung betreffende Teil der Beschwerden betrifft lediglich die bereits unter Art. 9 EMRK behandelten Umstände und wirft keine gesonderten Fragen auf. Er ist als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK im Fall Gamaleddyn/F:
Die Bf. behaupten, ihre Tochter sei zweimal wegen derselben Tatsachen verurteilt worden, nämlich zum einen durch den Entzug des Zugangs zum Unterricht, zum anderen durch den Schulausschluss. Da Art. 4 7. Prot. EMRK nur auf strafrechtliche Angelegenheiten anwendbar ist, hier aber Disziplinarmaßnahmen betroffen sind, ist dieser Teil der Beschwerde als ratione materiae unvereinbar mit der Konvention zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 und Art. 13 EMRK in den Fällen Aktas/F und Gamaleddyn/F und von Art. 6 EMRK im Fall Bayrak/F:
In allen drei Fällen rügen die Bf. Ungerechtigkeiten – vor allem die fehlende Unparteilichkeit – im Disziplinarverfahren. Der GH erinnert hier daran, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK dann nicht vorliegt, wenn eine Entscheidung, die entgegen dieser Bestimmung getroffen wurde, der nachfolgenden Kontrolle durch ein gerichtliches Organ unterliegt, das mit voller Kognitionsbefugnis ausgestattet ist und alle Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt. Vorliegend unterlagen die Entscheidungen der Disziplinarräte, die auch vom jeweiligen Akademiedirektor bestätigt worden waren, der nachprüfenden Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte, die über volle Kognitionsbefugnis verfügen. Vor ihnen konnten die Bf. all ihre Argumente frei und zweckdienlich geltend machen. Dieser Teil der Beschwerde ist daher als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).
Im Fall Gamaleddyn/F beschweren sich die Bf. außerdem über die Dauer des Verfahrens und die Abweisung ihres Antrags auf Verfahrenshilfe vor dem Conseil d'Etat. Was ersteres betrifft, weist der GH auf das Urteil Broca und Texier-Micault/F hin, in dem er die Staatshaftungsklage wegen fehlerhaften Funktionierens der Justiz als geeigneten Rechtsbehelf gegen angebliche Verletzungen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer ansah. Es handelt sich dabei um ein innerstaatliches Rechtsmittel, das Art. 35 Abs. 1 EMRK entsprechend seit 1.1.2003 ergriffen werden kann und muss. Andernfalls ist eine Beschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer unzulässig. Vorliegend haben die Bf. diese Voraussetzung nicht erfüllt und den innerstaatlichen Rechtsweg folglich nicht erschöpft. Dieser Beschwerdepunkt ist daher gemäß Art. 35 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).
Die Abweisung des Verfahrenshilfeantrags beruhte zweifellos auf dem legitimen Grund, nur denjenigen öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen, deren Anträge begründete Aussicht auf Erfolg haben. Das hierfür vom französischen Gesetzgeber vorgesehene System bietet eine Reihe substantieller Garantien, um den Einzelnen vor Willkür zu schützen – erstens durch die Zusammensetzung des für die Bewilligung zuständigen Büros, zweitens durch die Möglichkeit einer Berufung. Die Verweigerung der Verfahrenshilfe scheint deshalb in keiner Weise Art. 6 EMRK zu verletzen. Auch dieser Beschwerdepunkt ist demnach zurückzuweisen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a./TR v. 13.2.2003 (GK), NL 2003, 30; EuGRZ 2003, 206; ÖJZ 2005, 975.
Broca und Texier-Micault/F v. 21.10.2003.
Leyla Sahin/TR v. 29.6.2004, NL 2004, 147; EuGRZ 2005, 31.
Shingara Mann Singh/F v. 13.11.2008 (ZE), NL 2008, 319.
Dogru/F und Kervanci/F v. 4.12.2008, NL 2008, 353.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidungen des EGMR vom 30.6.2009, Bsw. 43563/08, Bsw. 14308/08, Bsw. 18527/08, Bsw. 29134/08, Bsw. 25463/08 und Bsw. 27561/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 199) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Zulässigkeitsentscheidung im Fall Tuba Aktas gg. Frankreich im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_4/Aktas.pdf
Die Originale der Zulässigkeitsentscheidungen sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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