Art 101 AEUV, § 1 Kartellgesetz 2005 Wettbewerbsrecht, Grundsatz „ne bis in idem“
Mit Vorabentscheidungsersuchen vom 12. März 2020, eingegangen beim Gerichtshof am 27. März 2020, ersucht der Oberste Gerichtshof (OGH) um Auslegung der Reichweite des Grundsatzes des ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts in der Union. Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt zusammengefasst der Vorwurf wettbewerbswidriger Absprachen zwischen zwei der drei großen deutschen Zuckerproduzenten sowie dem größten österreichischen Zuckerproduzenten – der vom zweiten deutschen Unternehmen kontrolliert wird, zugrunde. Zwischen den zwei deutschen Zuckerproduzenten gab es die Absprache, sich gegenseitig keine Konkurrenz zu machen. Ein im Jahr 2006 geführtes Telefonat betraf auch Vorgänge auf dem österreichischen Markt. Der österreichische Zuckerproduzent hatte keine Kenntnis dieser Vorgänge, auch dauerten die Lieferungen der slowakischen Tochter nach Österreich an. Das deutsche Bundeskartellamt verhängte eine Geldbuße über das zweite deutsche Unternehmen, da es dem Verbot von Vereinbarungen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken, zuwidergehandelt habe. Der deutsche Bußgeldbescheid bezieht sich auch auf das 2006 geführte Telefonat betreffend den österreichischen Markt. Die österreichische Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) beantragte gegenüber dem ersten deutschen Unternehmen die Feststellung, dass diese Art 101 AEUV und § 1 KartG 2005 bzw § 9 iVm § 18 KartG 1988 zuwidergehandelt habe sowie gegenüber dem zweiten deutschen Unternehmen die Verhängung zweier Geldbußen, davon eine gesamtschuldnerisch mit dem österreichischen Unternehmen. Das Doppelbestrafungsverbot erachtete die BWB als nicht relevant, da das deutsche Bundeskartellamt nur Absprachen mit Auswirkungen auf dem deutschen Markt abgehandelt hätte; es sei unionsrechtlich zulässig, dass die nationalen Behörden bei einer mehrere Mitgliedstaaten umfassenden Zuwiderhandlung parallel Sanktionen verhängen, sofern die Geldbußen auf die Auswirkungen in den jeweiligen Hoheitsgebieten beschränkt blieben. Die Unternehmen beantragten jeweils die Ab- bzw Zurückweisung der Anträge der BWB. Das zweite deutsche Unternehmen verwies dabei auch darauf, dass der deutsche Bußgeldbescheid sich auch auf das Telefonat 2006 betreffend den österreichischen Markt bezog und es daher nach dem Prinzip ne bis in idem unzulässig wäre, wegen des gleichen Sachverhalts eine weitere Geldbuße zu verhängen. Das Erstgericht wies die Anträge ua unter Verweis auf das Doppelbestrafungsverbot ab. Vor diesem Hintergrund will der mit dem Rekurs der BWB befasste OGH mit seinem Vorabentscheidungsersuchen nun zunächst wissen, ob das in der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem aufgestellte (dritte) Kriterium – dass das gleiche geschützte Rechtsgut betroffen sein muss – auch dann anzuwenden ist, wenn die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten für denselben Sachverhalt und in Bezug auf dieselben Personen neben nationalen Rechtsnormen auch dieselben europäischen Rechtsnormen (im vorliegenden Fall: Art 101 AEUV) anwenden. Für den Fall der Bejahung dieser Frage will der OGH wissen, ob in einem solchen Fall der parallelen Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts das gleiche geschützte Rechtsgut vorliegt. Der OGH will schließlich weiterwissen, ob es für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem von Bedeutung ist, dass die (zeitlich) erste Geldbußenentscheidung eines Mitgliedstaats die Auswirkungen des Wettbewerbsverstoßes in tatsächlicher Hinsicht auf jenen weiteren Mitgliedstaat berücksichtigt hat, dessen Wettbewerbsbehörde erst danach entschieden hat. Vor dem Hintergrund, dass dem ersten deutschen Unternehmen von der BWB Kronzeugenstatus zuerkannt wurde und nur die Feststellung der Zuwiderhandlung beantragt wurde, will der OGH schließlich wissen, ob auch insofern ein vom Grundsatz ne bis in idem beherrschtes Verfahren vorliegt. Der OGH verweist dazu auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der der Grundsatz nur in wettbewerbsrechtlichen Verfahren zu beachten ist, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind.